Die Erfindung der Einsamkeit
Gott, dass es erhalten bleibe. Es wird das Schönste und Beste sein, was wir in dieser schauerlichen Zeit geleistet haben … Ich weiß, dass wir nicht weiterbestehen werden. Ein Überleben nach solch grauenhaften Morden und Massakern ist nicht möglich. Daher schreibe ich dieses mein Testament. Vielleicht bin ich es nicht wert, dass man sich meiner erinnert, außer wegen meines Mutes, für die Gesellschaft Oneg Shabbat zu arbeiten und der am meisten Gefährdete zu sein, denn ich habe das ganze Material versteckt. Es fiele mir nicht schwer, meinen Kopf zu opfern. Aber ich riskiere auch den Kopf meiner lieben Frau Gele Seckstein und meiner über alles geliebten kleinen Tochter Margalit … Ich verlange keinen Dank, kein Denkmal, keinen Ruhm. Nur vergessen werden möchte ich nicht, damit meine Familie, Bruder und Schwester außer Landes, erfahren können, was aus meinen Überresten geworden ist … Ich möchte, dass man sich meiner Frau erinnert. Gele Seckstein, begabte Künstlerin, Dutzende von Werken, bekam nie eine Ausstellung, erschien nie in der Öffentlichkeit. Arbeitete in den drei Kriegsjahren als Erzieherin und Lehrerin mit Kindern, fertigte Bühnenbilder und Kostüme für Kinderaufführungen, erhielt Auszeichnungen. Nun bereiten wir beide uns auf den Tod vor … Ich möchte, dass man sich meiner Tochter erinnert. Margalit, jetzt zwanzig Monate alt. Beherrscht das Jiddische perfekt, spricht reines Jiddisch. Begann mit neun Monaten deutlich Jiddisch zu sprechen. Verstandesgemäß steht sie auf einer Stufe mit zwei- oder vierjährigen Kindern. Ich möchte nicht von ihr prahlen. Als Zeugen, die mir davon berichten, nenne ich die Lehrer der Schule in der Nowolipki 68 … Um mein Leben und das meiner Frau tut es mir nicht leid. Doch um das begabte kleine Mädchen tut es mir leid. Auch sie verdient, dass man sich ihrer erinnert … Mögen wir die Erlöser für den Rest der Juden auf der ganzen Welt sein. Ich glaube an das Überleben unseres Volkes. Die Juden wird man nicht auslöschen. Wir, die Juden aus Polen, Litauen, Lettland und der Tschechoslowakei, sind die Sündenböcke für ganz Israel in allen anderen Ländern.»
Stehen und sehen. Sitzen. Im Bett liegen. Durch die Straßen gehen. Die Mahlzeiten im Square Diner einnehmen, allein in einer Nische, auf dem Tisch vor sich eine Zeitung ausgebreitet. Die Post aufmachen. Briefe schreiben. Stehen und sehen. Durch die Straßen gehen. Von seinem alten englischen Freund T. erfahren, dass ihre Familien beide aus derselben Stadt (Stanislav) in Osteuropa stammen. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört; zwischen den Kriegen zu Polen; und jetzt, seit Ende des Zweiten Weltkriegs, zur Sowjetunion. In T.s erstem Brief wird darüber spekuliert, dass sie womöglich Vettern sein könnten. Ein zweiter Brief verschafft jedoch Klarheit. Von einer alten Tante hat T. erfahren, dass seine Familie in Stanislav ziemlich reich gewesen ist; A.s Familie hingegen (und dies stimmt mit allem überein, was er bisher gewusst hat) war arm. Es geht die Geschichte, dass einer von A.s Verwandten (ein Onkel oder Vetter entfernteren Grades) in einem kleinen Häuschen auf dem Land von T.s Familie gelebt hatte. Er verliebte sich in die junge Dame des Hauses, trug ihr die Ehe an und wurde abgelehnt. Worauf er Stanislav für immer den Rücken kehrte.
Besonders faszinierend findet A. an dieser Geschichte, dass dieser Mann denselben Namen hatte wie sein Sohn.
Einige Wochen später liest er in der Jüdischen Enzyklopädie Folgendes:
AUSTER, DANIEL (1893–1962). Israelischer Rechtsanwalt und Bürgermeister von Jerusalem. Auster wurde geboren in Stanislav (damals Westgalizien), studierte die Rechte in Wien, wo er 1914 das Examen ablegte, und ging nach Palästina. Im Ersten Weltkrieg diente er im Hauptquartier der österreichischen Expeditionsstreitkräfte in Damaskus, wo er als Assistent von Arthur Ruppin finanzielle Unterstützung von Konstantinopel an den hungernden jishuw’ leitete. Nach dem Krieg eröffnete er in Jerusalem eine Anwaltspraxis, die verschiedene jüdisch-arabische Interessenten vertrat, und wirkte als Sekretär der Rechtsabteilung der Zionistischen Kommission (1919–20). 1934 wurde Auster in den Stadtrat von Jerusalem gewählt; 1935 wurde er zum stellvertretenden Bürgermeister von Jerusalem ernannt; und 1936–38 war er amtierender Bürgermeister. 1947–48 vertrat Auster bei den Vereinten Nationen die jüdische Sache gegen die
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