Die Erfindung der Einsamkeit
hereingefallen. «Gerade habe ich ein Schreiben vom Präsidenten der Chase Manhattan Bank erhalten», berichtete er etwa, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um einen Formbrief handelte. An jenem Tag in der Arztpraxis empfand A. dieses Gebaren jedoch als schmerzlich: die Weigerung des alten Mannes anzuerkennen, was ihm direkt in die Augen stach. «Ich habe ein gutes Gefühl dabei, Doktor», sagte sein Großvater. «Ich weiß, Sie werden mich wieder gesund machen.» Und doch, fast widerwillig musste A. diese Fähigkeit, sich blind zu stellen, bewundern. Später half A. seinem Großvater, einen kleinen Ranzen mit Sachen fürs Krankenhaus zu packen. Der alte Mann warf auch drei oder vier seiner Zauberutensilien mit hinein. «Was hast du denn damit vor?», fragte A. «Die Schwestern unterhalten», erwiderte sein Großvater, «falls es mal langweilig wird.»
A. beschloss, solange sein Großvater im Krankenhaus wäre, in dessen Wohnung zu bleiben. Sie konnte ja nicht leerstehen (jemand musste die Rechnungen bezahlen, die Post abholen, die Blumen gießen), und es war dort mit Sicherheit gemütlicher als in seinem Zimmer in der Varick Street. Vor allem aber musste die Illusion aufrechterhalten werden, dass der alte Mann wieder zurückkommen würde. Bis es zum Sterben kam, bestand immer die Möglichkeit, dass es nicht dazu kam, und diese wenn auch geringe Chance durfte nicht außer Acht gelassen werden.
A. blieb die nächsten sechs oder sieben Wochen in dieser Wohnung. Seit frühester Kindheit hatte er dort seine Besuche abgestattet: in diesem großen, gedrungenen, seltsam geformten Gebäude an der Ecke Central Park South und Columbus Circle. Er fragte sich, wie viele Stunden er als Junge damit verbracht haben mochte, auf den Verkehr hinauszusehen, der sich dort draußen um die Statue von Christopher Columbus schlängelte. Durch eben diese Fenster im sechsten Stock hatte er den Paraden zum Thanksgiving Day zugesehen, die Bauphasen des Collosseums verfolgt, ganze Nachmittage lang die Leute gezählt, die unten auf den Straßen vorbeigingen. Jetzt war er wieder in dieser Wohnung, mit dem chinesischen Telefontischchen, der Glasmenagerie seiner Großmutter und der alten Luftbefeuchtungsanlage. Er war geradewegs in seine Kindheit zurückgekehrt.
A. hoffte noch immer auf eine Aussöhnung mit seiner Frau. Als sie sich bereit erklärte, mit ihrem Sohn in die Stadt zu kommen und in der Wohnung zu wohnen, glaubte er an die Möglichkeit, dass es vielleicht zu einem echten Wandel kommen könnte. Losgelöst von den Gegenständen und Sorgen ihres eigenen Lebens, schienen sie sich in dieser neutralen Umgebung gut einzuleben. Doch keiner von ihnen war zu diesem Zeitpunkt bereit zuzugeben, dass dies eine Illusion sein könnte, bloß ein Zusammenwirken von Erinnerung und unbegründeter Hoffnung.
Jeden Nachmittag fuhr A. mit dem Bus, wobei er einmal umsteigen musste, ins Krankenhaus, verbrachte ein oder zwei Stunden bei seinem Großvater und fuhr dann auf dem gleichen Weg wieder zurück. Das ging zehn Tage lang gut. Dann kam ein Wetterumschwung. Eine fürchterliche Hitze senkte sich über New York, und die Stadt wurde zu einem Alptraum aus Schweiß, Auspuffgasen und Lärm. All das bekam dem kleinen Jungen ganz und gar nicht (weder der beengte Aufenthalt in dieser Wohnung mit einer zischenden Klimaanlage noch die Spaziergänge durch die dunstigen Straßen mit seiner Mutter), und als das Wetter einfach nicht umschlagen wollte (mehrere Wochen hintereinander Luftfeuchtigkeitsrekorde), beschlossen A. und seine Frau, dass sie und der Junge aufs Land zurückkehren sollten.
Er blieb allein in der Wohnung seines Großvaters zurück. Jeder Tag wurde zu einer Wiederholung des vorigen. Gespräche mit dem Arzt, die Fahrt zum Krankenhaus, Privatkrankenschwestern einstellen und entlassen, den Klagen des Großvaters zuhören, ihm die Kissen unterm Kopf richten. Jedes Mal wenn er den Leib des alten Mannes zu sehen bekam, packte ihn Entsetzen. Die ausgemergelten Gliedmaßen, die eingeschrumpften Hoden, der Körper, abgemagert auf unter hundert Pfund. Einst ein korpulenter Mann, dessen stolzer, gut gepolsterter Bauch ihm auf Schritt und Tritt durch die Welt vorausgegangen war, war er jetzt kaum noch da. Früher in diesem Jahr hatte A. bereits eine Todesart kennengelernt, einen so plötzlichen Tod, dass er, sosehr dieser ihn auch beanspruchte, der Erfahrung dieses Todes beraubt wurde; jetzt erlebte er einen Tod anderer Art, und eben dies langsame, tödliche
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