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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Ende war sein Geist so verwirrt, dass er sich andere Namen gab – Scardinelli, Killalusimeno, und als einmal ein Besucher nicht schnell genug gehen wollte, sagte er mit warnend erhobenem Finger: «Ich bin der Herrgott.»
    In den letzten Jahren wurden wieder einmal Spekulationen über Hölderlins Leben in jenem Zimmer angestellt. So wird zum Beispiel behauptet, Hölderlin habe seinen Wahnsinn nur vorgetäuscht, der Dichter habe sich wegen der lähmenden politischen Reaktion, die Deutschland nach der Französischen Revolution heimsuchte, von der Welt zurückgezogen. Er lebte in dem Turm gewissermaßen im Untergrund. Dieser Theorie zufolge sind sämtliche Schriften Hölderlins aus der Zeit seines Wahnsinns (1806–1843) in Wirklichkeit in einem geheimen revolutionären Kode abgefasst. Es gibt sogar ein Schauspiel, das diese Idee weiter ausführt. In der Schlussszene dieses Werks besucht der junge Marx den Dichter in seinem Turm. Diese Begegnung soll uns den Schluss nahelegen, der alte und todkranke Hölderlin habe Marx zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 angeregt. Wäre dies der Fall, dann wäre Hölderlin nicht nur der größte deutsche Dichter des neunzehnten Jahrhunderts gewesen, sondern auch eine zentrale Gestalt in der Geschichte der politischen Theorie: das Verbindungsglied zwischen Hegel und Marx. Denn es ist belegt, dass Hölderlin und Hegel in ihrer Jugend befreundet waren. Sie haben zusammen am Tübinger Stift Theologie studiert.
    Spekulationen dieser Art kommen A. jedoch langweilig vor. Er hat keine Schwierigkeiten, Hölderlins Dasein in jenem Zimmer zu akzeptieren. Er würde sogar zu behaupten wagen, dass Hölderlin woanders gar nicht hätte überleben können. Ohne Zimmers Großzügigkeit und Freundschaft hätte Hölderlins Leben womöglich ein vorzeitiges Ende gefunden. Sich in ein Zimmer zurückziehen bedeutet ja nicht, dass man blind geworden ist. Wahnsinnig sein bedeutet nicht, dass man stumm geworden ist. Sehr wahrscheinlich hat das Zimmer Hölderlin ins Leben zurückgerufen, hat ihm zurückgegeben, was auch immer an Leben für ihn noch übrig war. Wie Jerome in seinem Kommentar zum Buch Jona über den Bericht von Jonas Aufenthalt im Bauch des Wals schrieb: «Man beachte, dass Jona dort, wo man sein Ende erwarten sollte, in Sicherheit war.»
    «Augen hat des Menschen Bild», schrieb Hölderlin im ersten Jahr seines Lebens in diesem Zimmer, «hingegen Licht der Mond. Der König Oedipus hat ein Auge zu viel vielleicht. Diese Leiden dieses Mannes, sie scheinen unbeschreiblich, unaussprechlich, unausdrücklich. Wenn das Schauspiel ein solches darstellt, kommts daher. Wie ist mirs aber, gedenk ich deiner jetzt? Wie Bäche reißt das Ende von etwas mich dahin, welches sich wie Asien ausdehnt. Natürlich dieses Leiden, das hat Oedipus. Natürlich ists darum. Hat auch Herkules gelitten? Wohl … Nämlich wie Herkules mit Gott zu streiten, das ist Leiden. Und die Unsterblichkeit im Neide dieses Lebens, diese zu teilen, ist ein Leiden auch. Doch das ist auch ein Leiden, wenn mit Sommerflecken ist bedeckt ein Mensch, mit manchen Flecken ganz überdeckt zu sein! Das tut die schöne Sonne: Nämlich die ziehet alles auf. Die Jünglinge führt die Bahn sie mit Reizen ihrer Strahlen wie mit Rosen. Die Leiden scheinen so, die Oedipus getragen, als wie ein armer Mann klagt, dass ihm etwas fehle. Sohn Lajos, armer Fremdling in Griechenland! Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.»

    Das Zimmer. Gegenposition zum Obigen. Oder: Gründe, in diesem Zimmer zu leben.
    Das Buch der Erinnerung. Buch fünf.
    Zwei Monate nach dem Tod seines Vaters (Januar 1979) brach A.s Ehe auseinander. Die Probleme hatten sich schon seit einiger Zeit zusammengebraut, und schließlich wurde der Entschluss zur Trennung gefasst. Diesen Bruch zu akzeptieren, unglücklich darüber zu sein und doch seine Unausweichlichkeit zu begreifen, war eine Sache; eine ganz andere aber war es, die daraus folgenden Konsequenzen zu schlucken: vor allem die Trennung von seinem Sohn. Der Gedanke daran war ihm unerträglich.
    Im beginnenden Frühjahr zog er in sein Zimmer in der Varick Street. Während der ersten Monate pendelte er ständig hin und her zwischen diesem Zimmer und dem Haus in Dutchess County, in dem er und seine Frau in den letzten drei Jahren gewohnt hatten. Die Woche über: Einsamkeit in der Stadt; an den Wochenenden: Besuche auf dem Lande, hundert Meilen weit weg, wo er in seinem ehemaligen Zimmer schlief, mit

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