Die Erfindung der Einsamkeit
seinem noch nicht zwei Jahre alten Sohn spielte und ihm aus den damals heißgeliebten Büchern vorlas: Let’s Go Trucks, Caps for Sale, Mother Goose.
Kurz nach seinem Umzug in die Varick Street verschwand irgendwo auf den Straßen dieses Viertels der sechsjährige Etan Patz. Jeder Blick A.s traf auf ein Foto des Jungen (an Laternenpfählen, in Schaufenstern, an leeren Backsteinmauern), darüber die Worte: KIND VERMISST. Das Gesicht dieses Kindes unterschied sich nicht allzu sehr von dem seines eigenen (und selbst wenn, hätte es wohl auch nicht viel geändert), und daher wurde er jedes Mal, wenn er des Fotos ansichtig wurde, an seinen Sohn erinnert – und mit genau diesen Worten: Kind vermisst. Etan Patz war eines Morgens von seiner Mutter zum Schulbus geschickt worden (am ersten Tag nach einem langen Busfahrerstreik; der Junge hatte es kaum erwarten können, endlich etwas Kleines ganz allein zu tun, diese winzige Geste der Selbständigkeit zu machen) und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Was auch immer ihm zugestoßen sein mochte, es hatte keine Spuren hinterlassen. Er konnte entführt worden sein, er konnte ermordet worden sein, oder vielleicht war er einfach losgezogen und an einem Ort ums Leben gekommen, wo es keine Zeugen gab. Das Einzige, was sich mit einiger Sicherheit sagen lässt, ist, dass er verschwunden war – wie vom Erdboden verschluckt. Die Zeitungen berichteten ausführlich darüber (Interviews mit den Eltern, Interviews mit den für den Fall zuständigen Kriminalbeamten, Artikel über die Persönlichkeit des Jungen: welche Spiele, welches Essen er mochte), und A. erkannte allmählich, dass der Gegenwart dieser – seiner eigenen und zugegebenermaßen wesentlich kleineren hinzugefügten – Katastrophe nicht zu entrinnen war. Alles, was ihm vor die Augen kam, schien bloß ein Bild von dem zu sein, was in seinem Innern vorging. Die Tage vergingen, und jeden Tag wurde ein bisschen mehr von dem Schmerz in seinem Innern nach außen gezerrt. Ein Gefühl von Verlust erfasste ihn und ließ ihn nicht mehr los. Und zuweilen empfand er diesen Verlust als so groß und so erdrückend, dass er glaubte, er werde nie mehr von ihm weichen.
Einige Wochen später, Sommeranfang. Ein strahlender New Yorker Juni: die Klarheit des Lichts auf den Backsteinen; durchsichtig blauer Himmel, einem Azur zustrebend, das sogar Mallarmé bezaubert hätte.
A.s Großvater (mütterlicherseits) begann sein langsames Sterben. Noch vor einem Jahr hatte er auf der ersten Geburtstagsparty von A.s Sohn Zauberkunststücke vorgeführt, doch jetzt war der Fünfundachtzigjährige so schwach, dass er ohne Hilfe nicht mehr stehen, sich ohne heftige Willensanstrengung nicht mehr bewegen konnte; allein der Gedanke an irgendeine Bewegung vermochte ihn zu erschöpfen. In der Arztpraxis kam es zu einer Familienkonferenz, auf der beschlossen wurde, ihn ins Doctor’s Hospital an der Ecke East End Avenue und Eighty-eighth Street zu schicken (dieselbe Klinik, in der seine Frau elf Jahre zuvor an amyotrophischer Lateralsklerose – Lou Gehrigs Krankheit – gestorben war). Außer A. waren an der Konferenz seine Mutter und deren Schwester, die zwei Kinder des Großvaters, beteiligt. Da keine der beiden Frauen in New York bleiben konnte, wurde die Verantwortung für alles Weitere auf A. übertragen. A.s Mutter musste nach Kalifornien zurück, um ihren schwerkranken Mann zu versorgen, und A.s Tante wollte gerade nach Paris reisen, um ihr erstes Enkelkind, die vor kurzem geborene Tochter ihres einzigen Sohnes, zu besuchen. Es schien, als wäre aber auch alles buchstäblich zu einer Sache auf Leben und Tod geworden. Und plötzlich musste A. (vielleicht weil sein Großvater ihn immer an W.C. Fields erinnert hatte) an eine Szene aus dem 1932er Fields-Film Million Dollar Legs denken: Jack Oakey rennt verzweifelt hinter einer abfahrenden Postkutsche her und fleht den Fahrer an anzuhalten: «Es geht um Leben und Tod!», schreit er. Darauf gelassen und zynisch die Antwort des Kutschers: «Was tut das nicht?»
Bei dieser Familienkonferenz konnte A. die Angst im Gesicht seines Großvaters sehen. Einmal zog der alte Mann seine Aufmerksamkeit auf sich, wies an die mit Ehrenplaketten, gerahmten Urkunden, Auszeichnungen, Diplomen und Referenzen bedeckte Wand neben dem Schreibtisch des Arztes und nickte wissend, als wolle er sagen: «Ganz schön beeindruckend, wie? Der Kerl wird schon für mich sorgen.» Auf dergleichen Pomp war der alte Mann schon immer
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