Die Erfindung der Einsamkeit
Straßenkarte, auf der die vielverzweigten Straßen eines ganzen Kontinents in geraden und geschlängelten Linien zu sehen sind), so dass wir bei unserem Gang durch die Stadt im Grunde nichts anderes tun als denken, und zwar auf eine solche Weise denken, dass unsere Gedanken eine Reise unternehmen, und diese Reise ist mehr oder weniger als die Schritte, die wir getan haben, so dass wir am Ende ohne weiteres sagen können, dass wir eine Reise unternommen haben, und selbst wenn wir unser Zimmer nicht verlassen, ist es eine Reise gewesen, und wir können ohne weiteres sagen, dass wir irgendwo gewesen sind, auch wenn wir nicht wissen, wo.
Er nimmt aus seinem Bücherregal eine Broschüre, die er vor zehn Jahren in Amherst, Massachusetts, gekauft hat, ein Souvenir von seinem Besuch im Haus von Emily Dickinson, und jetzt denkt er an die merkwürdige Erschöpfung, die ihn an jenem Tag im Zimmer der Dichterin befallen hatte: eine Kurzatmigkeit, als habe er gerade einen Berggipfel erklommen. Er war in diesem kleinen, sonnendurchfluteten Zimmer herumgegangen, hatte die weiße Tagesdecke auf dem Bett betrachtet, die polierten Möbel, hatte an die siebzehnhundert Gedichte gedacht, die dort entstanden waren, und versucht, sich diese als Teil dieser vier Wände vorzustellen, was ihm aber nicht gelungen war. Denn wenn Worte einem die Möglichkeit geben, in der Welt zu sein, dachte er, dann war diese Welt, auch wenn man sie gar nicht betreten konnte, bereits da, in diesem Zimmer; und das bedeutete, das Zimmer war in den Gedichten anwesend und nicht umgekehrt. Jetzt liest er auf der letzten Seite der Broschüre in der unbeholfenen Prosa des anonymen Verfassers:
«In diesem Schlaf- und Arbeitszimmer verkündete Emily, dass die Seele mit ihrer eigenen Gesellschaft zufrieden sein könne. Doch sie entdeckte, dass Bewusstsein Gefangenschaft und Freiheit gleichermaßen bedeutete, so dass sie auch hier in Verzweiflung oder Furcht ein Opfer ihrer selbstauferlegten Gefangenschaft wurde … Der einfühlsame Besucher spürt demnach in Emilys Zimmer eine Atmosphäre, die alle verschiedenen Stimmungen der Dichterin – Überlegenheit, Angst, Qual, Resignation und Ekstase – umfasst. Vielleicht mehr als jeder andere konkrete Ort in der amerikanischen Literatur symbolisiert dieses Zimmer die einheimische, von Emily verkörperte Tradition eines gewissenhaften Studiums des eigenen Innenlebens.»
Begleitmusik zum Buch der Erinnerung: der Song Solitude , gesungen von Billie Holiday. In der Aufnahme vom 9. Mai 1941 mit Billie Holiday und ihrem Orchester. Laufzeit: drei Minuten und fünfzehn Sekunden. Text: In my solitude you haunt me / With reveries of days gone by. / In my solitude you taunt me / With memories that never die … usw. Mit Danksagungen an D. Ellington, E. De Lange und I. Mills.
Erste Anspielungen auf eine Frauenstimme. Danach einige genauer ausführen.
Denn er glaubt daran, dass, wenn es eine Stimme der Wahrheit gibt – vorausgesetzt, es gibt so etwas wie Wahrheit, und vorausgesetzt, diese Wahrheit kann sprechen –, diese aus dem Mund einer Frau kommen muss.
Auch die Erinnerung kommt ihm manchmal als Stimme. Es ist eine Stimme in seinem Inneren, nicht unbedingt seine eigene. Sie spricht etwa so zu ihm, als würde sie einem Kind Geschichten erzählen, aber manchmal macht sie sich auch über ihn lustig oder ruft ihn zurecht oder beschimpft ihn mit unzweideutigen Ausdrücken. Zuweilen verzerrt sie vorsätzlich die Geschichte, die sie ihm erzählt, verdreht die Tatsachen ganz nach Laune, indem sie mehr Wert auf Dramatik als auf Wahrheit zu legen scheint. Dann muss er seine eigene Stimme gegen sie erheben und ihr Einhalt gebieten, worauf sie in das Schweigen zurückkehrt, aus dem sie gekommen ist. Manchmal auch singt sie. Oder aber sie flüstert. Und schließlich kommt es vor, dass sie nur noch summt oder murmelt oder Schmerzensschreie ausstößt. Und selbst wenn sie gar nichts sagt, weiß er, dass sie noch da ist, und im Schweigen dieser Stimme, die gar nichts sagt, harrt er ihrer Worte.
Jeremia: «Da sagte ich: ‹Ach, Herr Jahwe, ich kann doch nicht reden, ich bin noch so jung.› Da sprach Jahwe zu mir: ‹Sag nicht: Ich bin noch so jung. Nein, wohin immer ich dich sende, dahin wirst du gehen, und was immer ich dich heiße, das wirst du reden …› Darauf streckte Jahwe seine Hand aus und berührte meinen Mund. Dann sprach Jahwe zu mir: ‹So, nun habe ich meine Worte in deinen Mund gelegt.›»
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