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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Lust auf diese Dinge nach. Seine Ausdrucksweise war gestelzt. Ein Handtuch war nicht einfach ein Handtuch, sondern ein «Frottierhandtuch». Jemand, der Drogen nahm, war ein «Rauschgiftabhängiger». Und er sagte niemals: «Ich sah …», sondern eher so etwas wie «Ich hatte Gelegenheit zu beobachten …». Auf diese Weise gelang es ihm, die Welt auszuweiten, sie für sich selbst überzeugender und exotischer zu machen. Er markierte den großen Mann und vergnügte sich an den Nebenwirkungen dieser Pose: wenn die Oberkellner ihn Mr. B. nannten, wenn Botenjungen über seine üppigen Trinkgelder lächelten, wenn alle Welt ihn höflich grüßte. Er war kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus Kanada nach New York gekommen, ein armer Judenjunge, der Karriere machen wollte, und am Ende war ihm das auch nicht schlecht gelungen. New York war seine Leidenschaft, und in seinen letzten Jahren weigerte er sich fortzuziehen, schlug er das Angebot seiner Tochter, zu ihr ins sonnige Kalifornien zu kommen, mit den später noch oft zitierten Worten aus: «Ich kann New York nicht verlassen. Denn hier spielt sich das Leben ab.»
    A. erinnert sich an einen Tag in seinem vierten oder fünften Lebensjahr. Seine Großeltern waren zu Besuch gekommen, und sein Großvater führte ihm einen Zaubertrick vor, irgendeine Kleinigkeit, die er in einem Kramladen entdeckt hatte. Als er beim nächsten Besuch nicht wieder mit einem neuen Trick ankam, geriet A. vor Enttäuschung außer sich. Und von da an gab es jedes Mal irgendeine neue Zauberei: Münzen, die verschwanden; Seidenschals, die aus der Luft hervorgezaubert wurden; eine Maschine, die leere Papierstücke zu Geldscheinen machte; ein großer Gummiball, der sich, wenn man ihn in der Hand drückte, in fünf kleine Gummibälle verwandelte; eine Zigarette, die keinen Brandfleck hinterließ, wenn man sie in einem Taschentuch ausdrückte; eine zusammengerollte Zeitung, aus der nichts auslief, wenn man einen ganzen Krug Milch hineinschüttete. Was als kleine Kuriosität zur Belustigung seines Enkels begonnen hatte, verwandelte sich in eine echte Berufung. Er wurde ein vollendeter Amateurzauberer, ein gewandter Taschenspieler, und er war ausnehmend stolz auf seine Mitgliedschaft in der Magierinnung. Er zeigte seine Kunststücke bei allen Geburtstagsparties des kleinen A., und noch im letzten Jahr seines Lebens gab er Vorstellungen in den Seniorenklubs von New York, zusammen mit einer seiner Freundinnen (einer nachlässigen Frau mit dicker roter Perücke), die zu Akkordeonbegleitung ein Lied vortrug, das ihn als den Großen Zavello vorstellte. Nichts konnte natürlicher sein. Sein Leben war so durchdrungen vom Hokuspokus der Illusion, er hatte, indem er die Leute dazu brachte, an ihn zu glauben (und sie vom Vorhandensein von etwas überzeugte, was gar nicht da war, oder umgekehrt), so viele Geschäfte an Land gezogen, dass es für ihn eine Kleinigkeit war, auf eine Bühne zu steigen und sie auf eine eher herkömmliche Art hinters Licht zu führen. Er besaß die Fähigkeit, die Leute auf sich aufmerksam zu machen, und alle, die ihn sahen, konnten erkennen, was für eine Freude es ihm machte, im Mittelpunkt zu stehen. Niemand ist zynischer als ein Zauberer. Er weiß – und alle anderen wissen es auch –, dass alles, was er tut, Schwindel ist. Das Kunststück besteht nicht eigentlich darin, sie zu täuschen, sondern sie dazu zu bringen, sich freudig täuschen lassen zu wollen: so dass die Fessel von Ursache und Wirkung für einige Minuten gelockert wird, die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Wie Pascal es in den Pensées ausgedrückt hat: «Man kann keine vernünftigen Gründe dafür haben, nicht an Wunder zu glauben.»
    A.s Großvater gab sich jedoch mit Zauberei allein nicht zufrieden. Ebenso gern hatte er Witze, die er «Geschichten» nannte – und ständig in einem kleinen Notizbuch in seiner Jacketttasche mit sich herumtrug. Bei jedem Familientreffen zog er irgendwann das Notizbuch hervor, blätterte es rasch in einem Winkel des Zimmers durch, schob es in die Tasche zurück, setzte sich auf einen Stuhl und gab dann vielleicht eine Stunde lang verbalen Nonsens zum Besten. Auch hier ist Gelächter in der Erinnerung geblieben. Nicht wie bei S. ein Lachen aus dem Bauch heraus, sondern ein Lachen, das sich aus den Lungen nach draußen schlängelte, ein langgezogener, gewundener Singsang, der als Keuchen begann und sich allmählich in ein immer schwächeres chromatisches Pfeifen auflöste.

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