Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Auch dies möchte A. gern von ihm im Gedächtnis behalten: wie er auf diesem Stuhl sitzt und alle zum Lachen bringt.
    Die tollste Nummer seines Großvaters war aber weder ein Zaubertrick noch ein Witz, sondern eine Art außersinnlicher Voodoozauber, der die ganze Familie jahrelang in Atem hielt. Es war ein Spiel mit dem Namen «Wizard». A.s Großvater nahm ein Kartenspiel, bat jemanden, eine Karte herauszuziehen, irgendeine Karte, und sie allen zu zeigen. Die Herzfünf. Dann ging er ans Telefon, wählte eine Nummer und verlangte den Wizard zu sprechen. Ja, genau, sagte er, ich möchte den Wizard sprechen. Gleich darauf reichte er das Telefon herum, und aus dem Hörer kam eine Stimme, eine Männerstimme, die immer wieder sagte: Herzfünf, Herzfünf, Herzfünf. Dann dankte er dem Wizard, legte auf und grinste uns alle an.
    Als die Sache A. schließlich Jahre später erklärt wurde, schien das alles so simpel. Sein Großvater hatte mit einem seiner Freunde verabredet, dass sie füreinander den Wizard spielen wollten. Die Frage «Kann ich mal den Wizard sprechen» war ein Signal, auf das hin der Mann am anderen Ende der Leitung die Farben aufzusagen begann: Pik, Herz, Karo, Kreuz. Wenn er an die richtige kam, sagte der Anrufer etwas, irgend etwas, und das hieß so viel wie Stop, worauf der Wizard die Litanei der Zahlen durchging: As, zwo, drei, vier, fünf usw. Sobald er die richtige nannte, sagte der Anrufer wieder irgend etwas, und der Wizard brauchte nur noch die beiden Teile zusammenzusetzen und in die Muschel zu sprechen: Herzfünf, Herzfünf, Herzfünf.

    Das Buch der Erinnerung. Buch sechs.
    Selbst in der gewöhnlichen Realität seiner Erfahrung empfindet er es als ungewöhnlich, seine Füße auf dem Boden zu spüren, zu spüren, wie seine Lungen sich mit der Luft, die er atmet, ausdehnen und zusammenziehen, zu wissen, dass er, wenn er einen Fuß vor den anderen setzt, sich von dort, wo er ist, dahin bewegen kann, wohin er geht. Er findet es ungewöhnlich, dass ihn an manchen Morgen, wenn er sich kurz nach dem Aufwachen niederbeugt, um seine Schuhe zu schnüren, ein so intensives Glücksgefühl durchströmt, ein so natürliches und harmonisches Gefühl des Einsseins mit der Welt, dass er sich in der Gegenwart lebendig fühlt, in einer Gegenwart, die ihn umgibt und durchdringt, die über ihn hereinbricht mit der jähen, überwältigenden Erkenntnis, dass er am Leben ist. Und das Glück, das er in diesem Augenblick in sich entdeckt, ist ungewöhnlich. Und ob es ungewöhnlich ist oder nicht, er findet dieses Glück ungewöhnlich.

    Zuweilen hat es den Anschein, als streiften wir ziellos durch eine Stadt. Wir gehen die Straße entlang, biegen willkürlich in eine andere Straße ein, bleiben stehen, um das Gesims eines Hauses zu bewundern, senken den Blick, um einen Teerfleck auf dem Bürgersteig zu untersuchen, der uns an gewisse Gemälde erinnert, die wir einmal bewundert haben, betrachten die Gesichter der Leute, die uns auf der Straße entgegenkommen, versuchen uns das Leben vorzustellen, das sie mit sich herumtragen, gehen zum Essen in ein billiges Restaurant, kommen wieder heraus und setzen unseren Weg fort in Richtung Fluss (falls diese Stadt über einen Fluss verfügt), um die Boote vorbeigleiten oder die großen Schiffe im Hafen vor Anker liegen zu sehen, und vielleicht singen oder pfeifen wir beim Gehen vor uns hin oder versuchen uns an irgendetwas zu erinnern, das wir vergessen haben. Manchmal scheint es, als gingen wir nirgendwohin, wenn wir durch die Stadt streifen, als suchten wir uns lediglich die Zeit zu vertreiben, als sei es nur unsere Müdigkeit, die uns sage, wo und wann wir haltmachen sollen. Doch ebenso wie ein Schritt unweigerlich zum nächsten führt, folgt aus einem Gedanken unweigerlich ein nächster Gedanke, und falls einmal ein Gedanke mehr als nur einen einzigen Gedanken erzeugen sollte (sagen wir, zwei oder drei Gedanken, alle einander in ihren Konsequenzen gleichwertig), dann wird man nicht nur dem ersten Gedanken bis zu seinem Ende nachgehen müssen, sondern diesen Gedanken auch bis zu seinem Ausgangspunkt zurückverfolgen, um sodann den zweiten Gedanken zu Ende zu führen, und dann den dritten und so weiter, und wenn wir uns von diesem Prozess eine geistige Vorstellung machen wollen, ersteht ein Netzwerk von Pfaden, ähnlich einer Abbildung vom menschlichen Blutkreislauf (Herz, Arterien, Venen, Kapillaren) oder einer Landkarte (zum Beispiel der Plan einer großen Stadt oder eine

Weitere Kostenlose Bücher