Die Erfindung der Einsamkeit
dem Altgriechischen, illustriert und annotiert; Cambridge, 1806.
Diese Übersetzung war das einzige irgend gehaltvolle Werk aus der Feder Lord Roystons. Er hatte sie noch während seiner Studienzeit in Cambridge fertiggestellt und in einer luxuriösen Privatausgabe veröffentlicht. Im Anschluss an sein Examen hatte er die traditionelle Reise durch Europa angetreten. Aufgrund des napoleonischen Aufruhrs in Frankreich wandte er sich nicht nach Süden – was der natürliche Reisegang für einen jungen Mann mit seinen Interessen gewesen wäre –, sondern nach Norden, nach Skandinavien, wo er 1808 bei einer Fahrt übers tückische Gewässer der Ostsee kurz vor der russischen Küste bei einem Schiffbruch ums Leben kam. Er wurde nur vierundzwanzig Jahre alt.
Lykophron: «der Dunkle». In seinem dichten, verwirrenden Gedicht wird nie etwas benannt, alles wird zu einer Anspielung auf irgendetwas anderes. Schnell hat man sich im Labyrinth der Assoziationen verlaufen, und doch läuft man weiter, angetrieben von der Kraft der Stimme Kassandras. Das Gedicht ist ein verbaler Erguss, es atmet Feuer und wird von Feuer verzehrt und verdunkelt sich selbst bis zur Unkenntlichkeit. «Kassandras Wort», wie ein Freund von A. es ausdrückte (B.: seltsamerweise in einer Vorlesung über Hölderlins Dichtung – eine Dichtung, die er stilistisch mit Kassandras Rede vergleicht), «dieses nicht mehr reduzierbare Zeichen – deutungslos – ein unbegreifbares Wort, Kassandras Wort, ein Wort, aus dem keine Lehre zu ziehen ist, ein Wort, das immer und ewig nur gesprochen wird, um nichts zu sagen …»
Die Lektüre von Roystons Übersetzung zeigte A., dass bei dem Schiffbruch ein großes Talent verlorengegangen war. Roystons Englisch wogt mit solcher Wucht dahin, ist von solch gewandter und akrobatischer Syntax, dass man sich beim Lesen des Gedichts schier in Kassandras Mund gefangen glaubt.
Zeile 240
An oath! they have an oath in heaven!
Soon shall their sail be spread, and in their hands
The strong oar quivering cleave the refluent wave;
While songs, and hymns, and carols jubilant
Shall charm the rosy God, to whom shall rise,
Rife from Apollo’s Delphie shrine, the smoke
Of numerous holocausts: Well pleased shall hear
Enorches, where the high-hung taper’s light
Gleams on his dread carousels, and when forth
The Savage rushes on the corny field
Mad to destroy, shall bid his vines entwist
His sinewy strength, and hurl them to the ground.
*
Zeile 426
… then Greece
For this one crime, aye for this one, shall weep
Myriads of sons: no funeral urn, but rocks
Shall hearse their bones; no friends upon their dust
Shall pour the dark libations of the dead;
A name, a breath, an empty sound remains,
A fruitless marble warm with bitter tears
Of sires, and orphan babes, and widowed wives!
*
Zeile 1686
Why pour the fruitless strain? to winds, and waves,
Deaf winds, dull waves, and senseless shades of woods
I chaunt, and sing mine unavailing song.
Such woes has Lepsieus heaped upon my head,
Steeping my words in incredulity;
The jealous God! for from my virgin couch
I drove him amorous, nor returned his love.
But fate is in my voice, truth on my lips;
What must come, will come; and when rising woes
Burst on his head, when rushing from her seat
His country falls, nor man nor God can save,
Some wretch shall groan, «From her no falsehood flowed,
True were the shrieks of that ill-omened bird.» [2]
A. fasziniert der Gedanke, dass Royston und Q. dieses Werk beide mit Anfang zwanzig übersetzt haben. Trotz der anderthalb Jahrhunderte, die sie trennten, hatte jeder von ihnen seiner Sprache durch das Medium dieses Gedichts eine besondere Kraft verliehen. Irgendwann kam ihm die Idee, dass Q. eine Reinkarnation von Royston gewesen sein könnte. Ungefähr alle hundert Jahre wurde Royston wiedergeboren, um das Gedicht in eine andere Sprache zu übersetzen, und genau wie Kassandra das Schicksal beschieden war, dass niemand ihr glauben sollte, blieb das Werk Lykophrons eine Generation um die andere ungelesen. Also eine nutzlose Aufgabe: ein Buch schreiben, das ewig ungeöffnet bliebe. Und doch ersteht ein Bild in seinem Kopf: Schiffbruch. Bewusstsein, das auf den Grund des Meeres sinkt, und das schreckliche Geräusch von berstendem Holz, von hohen Masten, die in die Wogen stürzen. Sich Roystons Gedanken in dem Augenblick vorstellen, als sein Körper aufs Wasser klatschte. Sich das Verheerende dieses Todes vorstellen.
Das Buch der Erinnerung.
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