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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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neue Vorsätze, Kämpfe, Zufälle, Fortschritte, Rückschläge, und während alldem ein allmähliches Aufdämmern von Gewissen. Collodis Original ist der Disney-Adaption schon deshalb überlegen, weil es sich weigert, die inneren Motivationen der Geschichte bloßzulegen. Sie bleiben unversehrt, in einer vorbewussten, traumartigen Form, während bei Disney alles genau zur Sprache kommt – und das macht die Geschichte sentimental und somit auch trivial. Bei Disney betet Geppetto um einen Sohn; bei Collodi macht er sich kurzerhand einen. Wenn er die Puppe formt (aus einem Stück Holz, das sprechen kann, das lebendig ist, was Michelangelos Idee von der Bildhauerei entspricht: Die Figur ist im Material bereits enthalten; der Künstler schlägt lediglich das Überschüssige weg, bis die wahre Form zum Vorschein kommt; was impliziert, dass Pinocchios Dasein seiner leiblichen Erscheinungsform vorausgeht: Im Buch ist es seine Aufgabe, diese zu finden, mit anderen Worten, sich selbst zu finden, und folglich ist dies eher die Geschichte eines Werdens als einer Geburt), wenn er die Puppe formt, vermittelt dieses Tun bereits die Vorstellung des Gebets, und das wirkt durch seine Stummheit natürlich nur umso stärker. Ähnlich ist es mit Pinocchios Bemühungen, ein richtiger Junge zu werden. Bei Disney gebietet ihm die Blaue Fee, «tapfer, aufrichtig und selbstlos» zu sein, als gäbe es ein simples Rezept, das Ich in den Griff zu bekommen. Bei Collodi gibt es keine Anweisungen. Pinocchio stümpert einfach vor sich hin, er lebt einfach und gelangt ganz allmählich zu einem Bewusstsein von dem, was aus ihm werden kann. Die einzige Verbesserung, die Disney an der Geschichte vornimmt – und selbst darüber ließe sich noch streiten –, findet sich gegen Ende, in der Episode von der Flucht aus dem Bauch des Schrecklichen Haifischs (Monstro der Wal). Bei Collodi steht der Mund des Haifischs offen (er leidet an Asthma und Herzbeschwerden), und um die Flucht zu organisieren, braucht Pinocchio nichts weiter als Mut. «Nun, Väterchen, so haben wir keine Zeit zu verlieren. Wir müssen fliehen.»
    «Fliehen? Ja, wie denn?»
    «Wir müssen aus dem Rachen des Fisches entkommen, uns ins Meer werfen und schwimmen.»
    «Du hast gut reden. Aber ich, mein lieber Pinocchio, kann gar nicht schwimmen.»
    «Was macht das schon aus? Du setzt dich einfach huckepack auf meine Schultern, und ich bringe dich sicher ans Ufer, ich bin nämlich ein Meisterschwimmer.»
    «Das denkst du dir so, mein Junge», meinte der Alte und schüttelte schwermütig lächelnd den Kopf. «Aber wie kann es denn möglich sein, dass ein Kasper von kaum einem Meter Länge mich auf den Schultern trägt beim Schwimmen!»
    «Probiere es nur einmal aus, du wirst ja sehen. Und wenn es wirklich im Himmel beschlossen ist, dass wir sterben sollen, dann sterben wir wenigstens gemeinsam und Arm in Arm.» Und ohne ein weiteres Wort nahm Pinocchio die Kerze in die Hand, ging voran und sagte zu seinem Vater: «Geh dicht hinter mir, und hab keine Angst.»
    Bei Disney aber hat Pinocchio auch Erfindungsgeist nötig. Der Mund des Wales ist zu, und er öffnet ihn nur, um Wasser ein-, aber nicht ausströmen zu lassen. Pinocchio beschließt gewitzt, im Innern des Wales ein Feuer anzuzünden – was Monstro zum Niesen bringt, wobei Pinocchio und sein Vater ins Meer geschleudert werden. Doch wird mit diesem Verfahren mehr verloren als gewonnen. Denn damit kommt der Geschichte das entscheidende Bild abhanden: wie Pinocchio durch das trostlose Wasser schwimmt, unter Geppettos Gewicht zu versinken droht, sich mit einem milden Lächeln im Gesicht und dem gewaltigen aufgerissenen Maul des Haifischs hinter sich durch die mondlose graublaue Nacht vorankämpft. Der Vater auf dem Rücken seines Sohnes: dies beschwört so eindeutig das Bild von Aeneas, der Anchises auf seinem Rücken aus den Trümmern Trojas trägt, dass A. jedes Mal, wenn er seinem Sohn die Geschichte vorliest, ganze Scharen anderer Bilder sieht (nicht dass er daran denkt ; dazu passiert das alles viel zu schnell in seinem Kopf), die sich aus dem herausspinnen, womit er sich ständig beschäftigt: Kassandra zum Beispiel, die den Untergang Trojas voraussagt, und danach Orientierungslosigkeit, wie bei den Wanderungen des Aeneas, die der Gründung Roms vorangehen, und in diesem Wandern das Bild der durch die Wüste ziehenden Juden, aus dem sich wiederum Scharen von Bildern ergeben: «Nächstes Jahr in Jerusalem», und dazu dann in der

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