Die Erfindung der Einsamkeit
Buch acht.
Um die Zeit seines dritten Geburtstags begann der literarische Geschmack von A.s Sohn sich zu wandeln; er verlegte sich von simplen, üppig illustrierten Babybüchern auf anspruchsvollere Kinderbücher. Die Illustrationen waren noch immer eine Quelle großen Vergnügens, jedoch nicht mehr von entscheidender Bedeutung. Die Geschichte selbst war nun wichtig genug geworden, seine Aufmerksamkeit zu fesseln, und wenn A. zu einer Seite ohne irgendein Bild umblätterte, bemerkte er mit einiger Rührung, wie der kleine Junge konzentriert vor sich hinsah, ins Nichts, in die Luft, an die kahle Wand, und sich ausmalte, was die Worte ihm erzählten. «Es macht Spaß, sich etwas vorzustellen, was man nicht sehen kann», sagte er einmal zu seinem Vater bei einem Spaziergang. Ein andermal ging der Junge ins Badezimmer, schloss die Tür und kam nicht wieder heraus. A. fragte durch die geschlossene Tür: «Was machst du da drin?» – «Ich denke», sagte der Junge. «Zum Denken muss ich allein sein.»
Ein Buch faszinierte die beiden im Lauf der Zeit immer stärker. Die Geschichte von Pinocchio. Zuerst in der Disney-Fassung, und wenig später in der Originalversion mit dem Text von Collodi und den Illustrationen von Mussino. Besonders das Kapitel über den Sturm auf See, wo Pinocchio seinen Vater Geppetto im Bauch des Schrecklichen Haifischs wiederfindet, konnte der kleine Junge gar nicht oft genug hören.
«Ach, Väterchen, mein Väterchen! Endlich hab ich dich wieder! Jetzt lasse ich dich nie mehr fort, nie mehr, nie mehr!»
Geppetto erzählt: «Das Meer war stürmisch, und eine große Welle begrub mein Boot. Da kam ein schrecklicher Riesenhaifisch, der gerade in der Nähe war, sofort auf mich zu, streckte die Zunge aus, hob mich damit auf und schluckte mich hinunter wie ein Nusstörtchen.»
«Wie lange bist du denn hier schon gefangen?»
«Seit jenem Tag werden nun wohl zwei Jahre verstrichen sein; zwei Jahre, mein Pinocchio …»
«Und wie hast du dich hier einrichten können? Wo hast du die Kerze gefunden? Und wer gab dir Streichhölzer, sie anzuzünden?»
«Das will ich dir alles erzählen. Du musst wissen, dass jener Sturm, der mein Boot umwarf, auch ein großes Handelsschiff zum Scheitern brachte. Die Seeleute konnten sich alle retten, aber das Schiff sank bis auf den Meeresgrund, und der Riesenhaifisch, der an dem Tag einen ganz besonders großen Hunger hatte, verschlang auch gleich das ganze Schiff … Zu meinem Glück war das Schiff mit Fleischkonserven beladen, mit Keks, Zwieback, Flaschenwein, Rosinen, Kaffee, Zucker, Stearinkerzen und Streichhölzern. So habe ich mit dieser Hilfe, die Gott mir in der Not schickte, zwei Jahre hier leben können. Aber jetzt habe ich die letzte Kiste verbraucht, und diese Kerze, die du auf dem Tisch siehst, ist die einzige, die ich noch habe.»
«Und dann?»
«Dann, mein Lieber, müssen wir eben alle beide im Dunkeln sitzen.»
Für A. und seinen Sohn, die im vorangegangenen Jahr so oft voneinander getrennt gewesen waren, hatte diese Wiedervereinigungsszene etwas sehr Befriedigendes. Pinocchio und Geppetto sind ja praktisch während des ganzen Buchs voneinander getrennt. Im zweiten Kapitel bekommt Geppetto von dem Zimmermann Meister Kirsche das geheimnisvolle Stück sprechenden Holzes. Im dritten Kapitel schnitzt der alte Mann die Marionette. Und noch bevor Pinocchio fertig ist, fängt er mit seinen Streichen und Dummheiten an. «Aber es geschieht mir ja recht!», sagt Geppetto vor sich hin. «Ich hätte eher daran denken müssen.» Zu diesem Zeitpunkt besteht Pinocchio wie jedes neugeborene Kind aus reinem Willen, aus triebhaften Bedürfnissen ohne Bewusstsein. Auf den nächsten Seiten geht alles sehr schnell: Geppetto bringt seinem Sohn das Gehen bei, die Marionette lernt, was Hunger ist, und verbrennt sich die Füße – die der Vater dann neu anfertigt. Tags darauf verkauft Geppetto seine Hausjacke, um Pinocchio eine Schulfibel zu kaufen («Pinocchio verstand, und da er im Grunde ein gutes Herz hatte, warf er dem Alten die Arme um den Hals und küsste ihn ordentlich ab»), worauf sie sich für über zweihundert Seiten aus den Augen verlieren. Der Rest des Buchs handelt von Pinocchios Suche nach seinem Vater – und Geppettos Suche nach seinem Sohn. An einer Stelle erkennt Pinocchio, dass er ein richtiger Junge werden will. Doch ebenfalls wird ihm klar, dass dies erst geschehen kann, wenn er seinen Vater wiedergefunden hat. Abenteuer, Missgeschicke, Umwege,
Weitere Kostenlose Bücher