Die Erfindung der Einsamkeit
nur dann wahr, wenn er sie nicht ausspräche. Aber dann gäbe es freilich keine Prophezeiung, und Jona wäre kein Prophet. Doch besser kein Prophet sein als ein falscher. «Und nun, Jahwe, nimm doch mein Leben von mir, denn es ist besser, ich sterbe, als dass ich am Leben bleibe.»
Daher hielt Jona den Mund. Daher floh Jona vor dem Herrn und erlebte das Schicksal des Scheiterns. Soll heißen, das Scheitern des Einzelnen.
Erlass von Ursache und Wirkung.
A. erinnert sich an einen Augenblick in seiner Kindheit (er wird da zwölf oder dreizehn gewesen sein). Es war an einem Novembernachmittag, und er streifte ziellos mit seinem Freund D. durch die Gegend. Nichts tat sich. Doch schwelgten beide in diesem Augenblick im Gefühl unendlicher Möglichkeiten. Nichts tat sich. Oder man könnte auch sagen, was sich da tat, war dieses Bewusstsein von Möglichkeiten.
Sie gingen also durch die kalte graue Luft jenes Nachmittags, und plötzlich blieb A. stehen und sagte zu seinem Freund: Heute in einem Jahr wird uns etwas Außerordentliches zustoßen, etwas, das unser Leben für immer verändern wird.
Das Jahr verging, und am festgelegten Tag geschah nichts Außerordentliches. A. erklärte D.: Macht nichts; dann geschieht es eben nächstes Jahr. Nach Ablauf des zweiten Jahres das Gleiche: nichts. Doch A. und D. blieben unverzagt. In all ihren Jahren auf der Highschool gedachten sie dieses Tages. Nicht feierlich, sondern schlicht, indem sie ihn zur Kenntnis nahmen. Zum Beispiel trafen sie sich auf dem Schulkorridor und sagten: Samstag ist es so weit. Nicht dass sie noch immer erwarteten, es werde ein Wunder geschehen. Sondern, viel seltsamer, die Erinnerung an ihre Vorhersage war ihnen im Lauf der Jahre einfach liebgeworden.
Die rücksichtslose Zukunft, das Geheimnis dessen, was noch nicht geschehen ist: Auch dies, so lernte er, lässt sich in der Erinnerung bewahren. Und manchmal kommt ihm der Gedanke, dass die blinde, jünglingshafte Prophezeiung, die er vor zwanzig Jahren abgegeben hat, jenes Voraussehen des Außerordentlichen, im Grunde das Außerordentliche selbst gewesen war: Sein Geist war unbekümmert ins Ungewisse gesprungen. Denn tatsächlich sind viele Jahre vergangen. Aber noch immer muss er am Ende jedes Novembers an jenen Tag denken.
Prophezeiung. Wie in «wahre Prophezeiung». Wie bei Kassandra, die aus der Einsamkeit ihrer Zelle spricht. Wie in einer Frauenstimme.
Die Zukunft fällt in der Gegenwart von ihren Lippen, alles genau so, wie es geschehen wird, und es ist ihr Schicksal, dass ihr niemals geglaubt wird. Wahnsinnige, Tochter des Priamos: «the shrieks of that ill-omened bird … sounds of woe / Burst dreadful, as she chewed the laurel leaf, / And ever and anon, like the black Sphinx, / Poured the full tide of enigmatic song» («der Schwalbe Zukunftssang … ein ungeheuerlich Gemisch verworr’nen Schalls / entsandte sie der Kehle lorbeerduft’gem Spalt / und sprach prophetisch mit dem Ton der grausen Sphinx»). (Lykophrons Kassandra ; in Roystons Übersetzung von 1806; bzw. in der deutschen Übertragung von Carl von Holzingen, 1895). Von der Zukunft sprechen heißt eine Sprache benutzen, die sich selbst auf immer voraus ist, die Dinge, die noch nicht geschehen sind, der Vergangenheit anvertraut, einem «Schon», das auf immer hinter sich selbst zurückbleibt, und in diesem Raum zwischen Äußerung und Tat beginnt sich Wort um Wort ein Abgrund aufzutun, und wer eine Zeitlang über diese Leere nachdenkt, dem wird schwindlig, und er glaubt, selbst in diesen Schlund zu stürzen.
A. erinnert sich an seine Aufregung, als er 1974 in Paris Lykophrons siebzehnhundert Zeilen langes Gedicht (circa 300 v.Chr.) entdeckte, jenes Gedicht, das einen Monolog über Kassandras Delirien im Gefängnis vor dem Fall Trojas darstellt. Er stieß darauf durch eine französische Übersetzung von Q., einem Schriftsteller, der gerade so alt war wie er (vierundzwanzig). Als er drei Jahre später in einem Café an der Rue Condé mit Q. zusammentraf, fragte er ihn, ob ihm irgendwelche englischen Übersetzungen des Gedichts bekannt seien. Q. selbst konnte zwar Englisch weder lesen noch sprechen, doch ja, er hatte von einer gehört, die von einem gewissen Lord Royston Anfang des neunzehnten Jahrhunderts stammen sollte. Als A. im Sommer 1974 nach New York zurückkehrte, ging er in die Bibliothek der Columbia University und suchte nach dem Buch. Zu seiner großen Überraschung fand er es auch. Cassandra , übersetzt aus
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