Die Erfindung der Einsamkeit
Jüdischen Enzyklopädie das Foto seines Verwandten, der denselben Namen hatte wie sein Sohn.
Während dieser Lesungen aus Pinocchio hat A. stets aufmerksam das Gesicht seines Sohnes beobachtet. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass das, was für ihn der Geschichte einen Sinn gibt, die Vorstellung ist, wie Pinocchio seinen Vater rettet (indem er mit dem alten Mann auf dem Rücken fortschwimmt). Ein dreijähriger Junge ist ja wirklich sehr klein. Ein schwächliches, zerbrechliches Geschöpf im Vergleich zur Masse seines Vaters, träumt er davon, ungeheure Kräfte zu erlangen, mit denen er seine armselige Wirklichkeit erobern kann. Er ist noch zu jung, um zu begreifen, dass er eines Tages so groß wie sein Vater sein wird, und selbst wenn es ihm mit aller Sorgfalt erklärt wird, sind die Tatsachen noch immer allen möglichen krassen Fehldeutungen ausgesetzt: «Und eines Tages bin ich genauso groß wie du, und du bist genauso klein wie ich.» Vielleicht lässt sich aus diesem Blickwinkel nachvollziehen, warum die Superhelden der Comics einen solchen Reiz ausüben. Es ist der Traum, groß zu sein, ein Erwachsener zu werden. «Was macht Superman?» – «Er rettet Leute.» Und was tut ein Vater denn eigentlich anderes? Er bewahrt seinen kleinen Sohn vor Schaden. Und wenn dieser kleine Junge nun Pinocchio sieht, auch so eine törichte Puppe, die von einem Missgeschick ins andere stolpert, die «gut» sein will und, ohne etwas daran ändern zu können, doch «böse» ist, wenn eben diese untaugliche kleine Marionette, die nicht mal ein richtiger Junge ist, zu einer Erlösergestalt wird, zu einem Wesen, das seinen Vater aus den Klauen des Todes reißt – dann ist dies für den Jungen ein erhabener Moment der Offenbarung. Der Sohn rettet den Vater. Man muss dies ganz aus der Perspektive des kleinen Jungen sehen. Und dies wiederum im Kopf eines Vaters, der auch einmal ein kleiner Junge war, also ein Sohn seines eigenen Vaters. Puer aeternus. Der Sohn rettet den Vater.
Noch ein Kommentar über die Natur des Zufalls.
Er möchte nicht versäumen zu erwähnen, dass er bei einem späteren Besuch in Paris, zwei Jahre nachdem er S. kennengelernt hatte, zufällig auch dessen Sohn begegnet war – unter Gegebenheiten, die nichts mit S. selbst zu tun hatten. Dieser junge Mann, P. mit Namen und genauso alt wie A., baute sich gerade bei einem bedeutenden französischen Filmproduzenten eine recht einflussreiche Stellung aus. A. selbst arbeitete 1971 und 1972 dann ebenfalls für diesen Produzenten; es waren verschiedene Gelegenheiten (als Übersetzer und Ghostwriter), doch das alles tut nichts zur Sache. Wichtig ist, dass es P. Mitte bis Ende der siebziger Jahre gelungen war, sich bis zur Stellung eines Koproduzenten hochzuarbeiten, und dass er zusammen mit dem Sohn des französischen Produzenten den Film Superman machte, der, wie A. gelesen hatte, so viele Millionen Dollar gekostet hatte, dass er als das teuerste Kunstwerk in der Geschichte des Abendlandes bezeichnet worden war.
Im Frühsommer 1980, kurz nach dem dritten Geburtstag seines Sohnes, verbrachten A. und der Junge eine Woche auf dem Lande, in einem Haus von Freunden, die zu der Zeit verreist waren. A. las in der Zeitung, dass in einem Kino in der Nähe Superman gezeigt wurde, und beschloss, den Jungen zu einer Vorstellung mitzunehmen, in der unbestimmten Hoffnung, dass der so lange stillsitzen könnte. Während der ersten Hälfte des Films war der Junge ruhig, knabberte sich durch eine Tüte Popcorn, stellte seine Fragen, wie A. es ihm eingeschärft hatte, im Flüsterton und ließ den Weltraum, die Raketen und explodierenden Planeten ohne große Umstände über sich ergehen. Aber dann geschah etwas. Superman begann zu fliegen, und mit einem Mal verlor der Junge die Fassung. Seine Kinnlade klappte herunter, er stand auf, verschüttete sein Popcorn, zeigte auf die Leinwand und schrie: «Da! Da! Er fliegt!» Für den Rest des Films war er außer sich: das Gesicht ganz verzerrt vor Angst und Faszination, bestürmte er seinen Vater mit Fragen, versuchte in sich aufzunehmen, was er gesehen hatte, staunte, versuchte es noch einmal aufzunehmen, staunte wieder. Gegen Ende wurde es ein bisschen zu viel für ihn. «Zu viel Bummbumm», sagte er. Sein Vater fragte ihn, ob er gehen wolle, und er sagte ja. A. hob ihn auf und trug ihn aus dem Kino – mitten in einen heftigen Hagelsturm. Als sie zum Wagen rannten, sagte der Junge (der in A.s Armen auf und ab hüpfte): «Heute Abend
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