Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Stuhl versperrt die andere Tür, die Fensterläden sind geschlossen: Man kommt nicht hinein, und ist man drin, kommt man nicht hinaus. Erdrückt von den Möbeln und Alltagsgegenständen des Zimmers beginnt man auf diesem Bild einen Leidensschrei zu hören, und hört man ihn erst einmal, nimmt er kein Ende mehr. «Und ich schrie ob meiner Not …» Doch kommt auf diesen Schrei keine Antwort. Der Mann auf diesem Bild (und es ist ein Selbstporträt, nicht anders als die Darstellung eines Gesichts mit Augen, Nase, Lippen und Kinn) ist zu viel allein gewesen, hat zu viel in den Tiefen der Einsamkeit gerungen. Die Welt endet an dieser verbarrikadierten Tür. Denn das Zimmer ist keine Darstellung der Einsamkeit, sondern das Wesen der Einsamkeit selbst. Und dies ist etwas so Lastendes, so Unaussprechliches, dass es sich nur durch sich selbst ausdrücken lässt. «Und das ist alles – sonst ist nichts in diesem Zimmer mit den geschlossenen Fensterläden …»

    Noch ein Kommentar über die Natur des Zufalls.
    A. begann und beendete seine Reise in London, und jedes Mal nutzte er die Gelegenheit, englische Freunde zu besuchen. Das Mädchen von der Fähre und den Van-Gogh-Gemälden war Engländerin (aufgewachsen in London, hatte sie vom zwölften bis achtzehnten Lebensjahr in Amerika gelebt und war dann zum Kunststudium nach London zurückgekehrt), und gleich auf der ersten Etappe seiner Reise verbrachte A. ein paar Stunden mit ihr. Seit ihrem Abgang von der Highschool waren sie bestenfalls noch sporadisch in Verbindung geblieben und hatten sich vielleicht noch fünf- oder sechsmal gesehen. A. war längst von seiner Leidenschaft geheilt, hatte sie aber noch nicht völlig aus seinen Gedanken entlassen; irgendwie klammerte er sich an das Gefühl dieser Leidenschaft, auch wenn das Mädchen selbst ihm nichts mehr bedeutete. Seit ihrer letzten Begegnung waren einige Jahre vergangen, und jetzt fand er es traurig und geradezu bedrückend, mit ihr zusammen zu sein. Sie war noch immer schön, dachte er, und doch schien sie von Einsamkeit umschlossen wie ein ungeborener Vogel von seinem Ei. Sie wohnte allein, hatte fast keine Freunde. Sie arbeitete seit vielen Jahren an Holzplastiken, aber zeigen wollte sie die niemandem. Jedes Mal wenn sie eine fertig hatte, zerstörte sie sie und begann dann mit einer neuen. Wieder einmal wurde A. mit der Einsamkeit einer Frau konfrontiert. Doch in diesem Fall hatte sie sich so weit in sich selbst zurückgezogen, dass sie gleich an der Quelle vertrocknet war.
    Ein paar Tage später fuhr er nach Paris, schließlich nach Amsterdam und dann wieder nach London zurück. Er sagte sich: Die Zeit ist zu knapp, sie noch einmal zu sehen. An einem dieser Tage vor seinem Rückflug nach New York war er mit einem Freund (T., eben der, der einmal vermutet hatte, sie könnten Vettern sein) zum Abendessen verabredet, und er beschloss, den Nachmittag in der Royal Academy of Art zu verbringen, wo eine große Ausstellung von «postimpressionistischen» Gemälden gezeigt wurde. Angesichts des enormen Besucherandrangs verzichtete er dann aber auf den geplanten Nachmittag im Museum und hatte so plötzlich drei oder vier Stunden Zeit bis zu seiner Verabredung. Er ging zum Mittagessen in ein billiges Fish-and-Chips-Lokal in Soho und überlegte, was er in der freien Zeit mit sich anfangen sollte. Er bezahlte die Rechnung, verließ das Restaurant, bog um die Ecke, und dort, vor dem Schaufenster eines großen Schuhgeschäfts, sah er sie.
    Es kam wahrhaftig nicht alle Tage vor, dass er auf den Straßen Londons zufällig jemandem begegnete (er kannte in dieser Millionenstadt nur eine Handvoll Leute), und doch erschien ihm diese Begegnung vollkommen natürlich, als wäre dies etwas ganz Alltägliches. Er hatte gerade noch an sie gedacht, hatte seinen Entschluss, sie nicht anzurufen, bedauert, und als sie da nun plötzlich vor ihm stand, hatte er unwillkürlich das Gefühl, sie willentlich herbeigerufen zu haben.
    Er ging auf sie zu und sagte ihren Namen.

    Gemälde. Oder der Zusammenbruch der Zeit in Bildern.
    In der Londoner Royal Academy hatte A. mehrere Bilder von Maurice Denis gesehen. In Paris hatte er, in Zusammenhang mit einer von ihm geplanten Anthologie französischer Gedichte, die übrigens der eigentliche Anlass für seine Rückkehr nach Europa gewesen war, die Witwe des Dichters Jean Follain besucht (Follain war 1971, nur wenige Tage vor A.s Umzug nach Paris, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen). Madame

Weitere Kostenlose Bücher