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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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23. November, dem Fest des Heiligen Clemens, Papst und Märtyrer,
und anderer Märtyrer,
Vorabend des Heiligen Chrysogomus und anderer Märtyrer.
Von etwa halb elf Uhr nachts bis halb eins.

Feuer
«Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs»,
nicht der Philosophen und Wissenschaftler.
Gewissheit. Gewissheit. Empfinden. Freude. Frieden.
    ***
Größe der menschlichen Seele.
    ***
Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude.
    ***
Ich werde Dein Wort nicht vergessen. Amen.
    ***
    Zum Erinnerungsvermögen.
    Im Frühjahr 1966, bald nachdem er seine zukünftige Frau kennengelernt hatte, wurde A. einmal von ihrem Vater (einem Englischprofessor an der Columbia) zu Kaffee und Kuchen in die Familienwohnung am Morningside Drive eingeladen. Weitere Gäste an diesem Abend waren Francis Ponge und seine Frau, und A.s künftiger Schwiegervater meinte, der junge A. (damals gerade neunzehn) werde sich freuen, einen so bekannten Schriftsteller kennenzulernen. Ponge, der Meisterdichter des Gegenständlichen, der eine Dichtung entwickelt hatte, die fester in der Außenwelt wurzelte als wohl jede andere, hielt in diesem Semester eine Vorlesung an der Columbia. A. sprach bereits ganz gut Französisch. Da Ponge und seine Frau kein Englisch sprachen und A.s künftige Schwiegereltern kaum Französisch konnten, beteiligte sich A. an der Unterhaltung ausführlicher, als es sonst, in Anbetracht seiner angeborenen Schüchternheit und seiner Neigung, möglichst überhaupt nichts zu sagen, der Fall gewesen wäre. Er hat Ponge als einen freundlichen und lebhaften Mann mit funkelnden blauen Augen in Erinnerung.
    Zum zweiten Mal begegnete er Ponge 1969 (es könnte aber auch 1968 oder 1970 gewesen sein) auf einer Party, die Ponge zu Ehren von G., einem Barnard-Professor, der seine Werke übersetzt hatte, gegeben wurde. Als A. ihm die Hand schüttelte, stellte er sich mit den Worten vor, Ponge werde sich zwar wohl kaum noch daran erinnern, aber sie wären sich vor ein paar Jahren schon einmal in New York begegnet. Im Gegenteil, erwiderte Ponge, er erinnere sich recht gut an diesen Abend. Und dann erzählte er von der Wohnung, in der das Treffen stattgefunden hatte, und beschrieb sie in allen Einzelheiten, von der Aussicht aus den Fenstern bis hin zur Farbe der Couch und der Anordnung der Möbel in jedem einzelnen Zimmer. Dass jemand sich so genau an Dinge erinnern konnte, die er nur einmal gesehen hatte, Dinge, die, außer in einem flüchtigen Augenblick, keinerlei Bedeutung für sein Leben gehabt haben konnten, beeindruckte A. wie etwas Übernatürliches. Er erkannte, dass es für Ponge zwischen der Arbeit des Schreibens und der Arbeit des Sehens keine Trennung gab. Denn kein Wort kann geschrieben werden, ohne dass es zuvor gesehen wurde, und bevor es seinen Weg aufs Papier findet, muss es zunächst ein Teil des Körpers gewesen sein, ein Ding, in dessen physischer Gegenwart man ebenso gelebt hat, wie man mit seinem Herzen, seinem Magen und seinem Gehirn lebt. Erinnerung also nicht als die Vergangenheit in uns, sondern als Beweis für unser Leben in der Gegenwart. Wer wirklich in seiner Umgebung anwesend sein will, darf nicht an sich selbst, sondern muss an das denken, was er sieht. Um da zu sein, muss er sich vergessen. Und aus diesem Vergessen kommt das Erinnerungsvermögen. Auf diese Weise kann man sein Leben so leben, dass nichts davon verlorengeht.

    Auch trifft zu, was Beckett über Proust geschrieben hat: «Wer ein gutes Gedächtnis hat, erinnert sich an nichts, denn er vergisst nichts.» Und man muss auch, wie Proust es in seinem langen Roman über die Vergangenheit macht, zwischen willentlichem und unwillentlichem Erinnern unterscheiden.
    Während A. jedoch die Seiten seines eigenen Buches schreibt, glaubt er etwas zu tun, das zu keiner dieser beiden Arten von Erinnerung gehört. A. hat ein gutes Gedächtnis, und er hat auch ein schlechtes Gedächtnis. Vieles ist ihm entgangen, aber er hat auch vieles behalten. Wenn er schreibt, hat er das Gefühl, sich nach innen zu bewegen (durch sich hindurch), zugleich aber, sich nach außen zu bewegen (auf die Welt zu). Was er in diesen wenigen Augenblicken am Heiligabend 1979 erfuhr, als er allein in seinem Zimmer in der Varick Street saß, war vielleicht dies: die plötzliche Erkenntnis, dass er, selbst in der tiefsten Einsamkeit seines Zimmers, nicht allein war, oder genauer, dass er in dem Moment, da er den Versuch unternahm, von dieser Einsamkeit zu sprechen, mehr als nur er selbst geworden war.

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