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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Erinnerung demnach nicht einfach als Wiederauferstehung der eigenen Vergangenheit, sondern als Eintauchen in die Vergangenheit von anderen, soll heißen: als Geschichte – die man gleichermaßen als Teilnehmer und Zeuge erlebt, von innen heraus und von außen. Daher ist in seinem Geist alles auf einmal gegenwärtig, als reflektiere jeder einzelne Umstand das Licht aller anderen und sende zugleich seine eigene einzigartige und unauslöschliche Strahlung aus. Sollte es irgendeinen Grund dafür geben, dass er jetzt in diesem Zimmer ist, dann den, dass irgendetwas in seinem Innern danach giert, das alles zur gleichen Zeit zu sehen, dieses Chaos in all seiner großen und aufdringlichen Gleichzeitigkeit auszukosten. Aber davon zu erzählen ist notwendigerweise ein langsamer Prozess, ein heikles Geschäft, bei dem man sich an das zu erinnern versucht, woran man sich bereits erinnert hat. Nie wird die Feder sich schnell genug bewegen können, um jedes Wort aufzuschreiben, das im Raum der Erinnerung entdeckt wurde. Manches ist für immer verloren, anderes fällt einem vielleicht noch einmal ein, und wieder anderes ist verlorengegangen, gefunden und wieder verloren worden. Und über nichts davon kann man sich irgend sicher sein.

    Denkbare Motti für das Buch der Erinnerung:
    «Gedanken kommen und gehen willkürlich. Es gibt kein Mittel, sie festzuhalten oder herbeizurufen. Ein Gedanke ist mir entfallen: Ich versuche ihn niederzuschreiben; stattdessen schreibe ich, dass er mir entfallen ist.» (Pascal)
    «Wenn ich einen Gedanken niederschreibe, entfällt er mir zuweilen; dies aber erinnert mich an meine Schwachheit, die ich immerzu vergesse. Und dies lehrt mich ebenso viel wie mein vergessener Gedanke, denn ich strebe nur danach, meine eigene Nichtigkeit zu erkennen.» (Pascal)

    Das Buch der Erinnerung. Buch zehn.
    Wenn er von dem Zimmer spricht, möchte er keinesfalls die Fenster übergehen, die sich manchmal dort auftun. Das Zimmer muss nicht unbedingt ein Bild hermetischen Bewusstseins sein. Wenn ein Mann oder eine Frau allein in einem Zimmer steht oder sitzt, spielt sich dort mehr ab, so erkennt er, als das Schweigen des Denkens, das Schweigen eines Körpers, der sich abmüht, Gedanken in Worte zu kleiden. Und er will auch nicht darauf hinaus, dass in den vier Wänden des Bewusstseins nichts anderes stattfindet als Leiden, wie es bei den Bemerkungen zu Hölderlin und Emily Dickinson anklingt. Er denkt zum Beispiel an Vermeers Frauengestalten, allein in ihren Zimmern, in die durch ein offenes oder geschlossenes Fenster das helle Licht der Wirklichkeit fällt, und an die vollkommene Stille dieser Einsamkeiten, eine schier herzzerreißende Beschwörung des Alltäglichen und seiner häuslichen Variablen. Er denkt besonders an die Frau in Blau , ein Gemälde, das er im Amsterdamer Rijksmuseum lange und wie gebannt betrachtet hatte. Bemerkungen eines Kommentators dazu: «Der Brief, die Landkarte, die Schwangerschaft der Frau, der leere Stuhl, die offene Schachtel, das unsichtbare Fenster – all das gemahnt auf natürliche Weise an etwas Fehlendes, an Abwesenheit, an andere Seelen, Willen, Zeiten und Orte, an Vergangenheit und Zukunft, an Geburt und vielleicht auch an den Tod – allgemein gesagt also an eine Welt, die sich über die Begrenzungen des Rahmens hinaus erstreckt, und an weitere Horizonte, welche die Szene vor unseren Augen umschließen und auf sie einwirken. Dabei aber beharrt Vermeer auf der Fülle und Selbstgenügsamkeit des gegenwärtigen Augenblicks mit solcher Überzeugungskraft, dass dieser in seiner Fähigkeit, den Blick zu lenken und festzuhalten, einen metaphysischen Wert annimmt.»
    Mehr noch als die in dieser Aufzählung genannten Gegenstände verlockt ihn das durch das unsichtbare Fenster auf der linken Bildseite einfallende Licht, seine Aufmerksamkeit der Außenwelt, der Welt jenseits des Gemäldes zuzuwenden. A. starrt der Frau ins Gesicht, und nach einer Weile glaubt er fast die Stimme in ihrem Kopf zu hören, während sie den Brief in ihren Händen liest. Hier die Hochschwangere; so gelassen angesichts baldiger Mutterschaft, hat sie den Brief aus der Schachtel genommen und liest ihn zweifellos zum hundertsten Mal; und dort, an der Wand zu ihrer Rechten, eine Weltkarte, ein Bild für all das, was außerhalb dieses Zimmers existiert: dieses Licht, das sanft auf ihrem Antlitz leuchtet und den blauen Kittel, der sich über ihrem lebensvollen Bauch vorwölbt, in solche Helligkeit taucht, dass er

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