Die Erfindung der Einsamkeit
Follain war, wie er bald erfuhr, die Tochter von Maurice Denis, und viele Gemälde ihres Vaters hingen an den Wänden ihrer Wohnung. Sie selbst war bereits Ende siebzig, vielleicht auch schon achtzig, und ihre Pariser Robustheit, ihre heisere Stimme und die Hingabe, mit der sie sich dem Werk ihres Mannes widmete, beeindruckten A. sehr.
Eins der Bilder in der Wohnung trug einen Titel: «Madelaine à 18 mois» (Madelaine mit 18 Monaten), von Denis an den oberen Rand der Leinwand geschrieben. Es war dies dieselbe Madelaine, die später Follains Frau geworden war und die A. gerade in ihre Wohnung gebeten hatte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, stand sie einen Augenblick vor diesem Gemälde, das fast achtzig Jahre zuvor entstanden war, und A. glaubte sich unvorstellbar in der Zeit zurückversetzt, denn er sah, dass das Kindergesicht auf dem Bild und das alte Frauengesicht vor ihm einander exakt glichen. Für diesen einen Augenblick hatte er das Gefühl, die menschliche Illusion von der Zeit durchbrochen und als das erfahren zu haben, was sie war: nicht mehr als ein Wimpernschlag. Er hatte ein ganzes Leben vor sich gesehen, und es war zu diesem einen Augenblick zusammengeschmolzen.
O. beschreibt A. in einem Gespräch, was für ein Gefühl es sei, ein alter Mann geworden zu sein. O. ist bereits über siebzig, sein Gedächtnis versagt, sein Gesicht ist verschrumpelt wie eine halbgeschlossene Handfläche. Er sieht A. kopfschüttelnd an und sagt, ohne eine Miene zu verziehen: «Seltsam, was einem kleinen Jungen so passieren kann.»
Ja, es ist möglich, dass wir gar nicht erwachsen werden, dass wir, auch wenn wir alt werden, stets die Kinder bleiben, die wir immer gewesen sind. Wir haben uns in Erinnerung, wie wir damals waren, und wir halten uns noch für dieselben. Zu dem, was wir jetzt sind, haben wir uns damals gemacht, und nun bleiben wir, ungeachtet all der Jahre, was wir gewesen sind. Wir selbst ändern uns nicht. Die Zeit lässt uns alt werden, aber wir ändern uns nicht.
Das Buch der Erinnerung. Buch elf.
Er erinnert sich daran, wie er 1974 von seiner Hochzeitsparty nach Hause kam, seine Frau in ihrem weißen Kleid neben ihm; er nahm den Haustürschlüssel aus der Tasche, schob den Schlüssel ins Schloss, und als er ihn umdrehte, spürte er, wie er im Schloss abbrach.
Er erinnert sich daran, dass im Frühjahr 1966, kurz nachdem er seine künftige Frau kennengelernt hatte, eine der Tasten ihres Klaviers entzweiging: das F über dem eingestrichenen C. In jenem Sommer reisten die beiden in eine abgelegene Gegend von Maine. Eines Tages kamen sie durch einen fast verlassenen Ort; sie betraten einen alten Versammlungssaal, der seit Jahren leergestanden hatte. In dem Raum lagen die Überbleibsel irgendeines Vereinslebens herum: Indianerkopfschmuck, Namenslisten, die Reste von Trinkgelagen. Der Saal war staubig und leer, bis auf ein Klavier in einer Ecke. Als seine Frau darauf zu spielen begann (sie spielte gut), stellte sie fest, dass alle Tasten funktionierten, außer einer: das F über dem eingestrichenen C.
In diesem Augenblick erkannte A. wohl, dass er die Welt nie in den Griff bekommen würde.
Hätte ein Romanautor derlei Kleinigkeiten wie die Sache mit den kaputten Klaviertasten erwähnt (oder die mit dem Schlüssel, der am Hochzeitstag im Schloss abbricht), wäre der Leser gezwungen aufzumerken, zu vermuten, der Autor wolle damit irgend etwas über seine Figuren oder die Welt aussagen. Man könnte von symbolischen Bedeutungen sprechen, von Untertext, oder einfach von formalen Kunstgriffen (denn sobald etwas mehr als einmal geschieht, auch wenn es reiner Zufall ist, entsteht ein Muster, entwickelt sich eine Form). Bei einem literarischen Werk setzt man hinter den Worten das Wirken eines Bewusstseins voraus. Bei Ereignissen in der sogenannten Wirklichkeit setzt man nichts voraus. Die erfundene Geschichte besteht vollständig aus Bedeutungen, während die Tatsachengeschichte keinerlei Bedeutung außerhalb von sich selbst besitzt. Sagt jemand: «Ich gehe nach Jerusalem», denkt man bei sich: Wie schön, er geht nach Jerusalem. Wenn aber dieselben Worte: «Ich gehe nach Jerusalem» von einer Romanfigur gesagt werden, reagiert man ganz anders darauf. Man denkt zunächst einmal an Jerusalem selbst: seine Geschichte, seine religiöse Bedeutung, seine Funktion als mythischer Ort. Man denkt an die Vergangenheit, an die Gegenwart (Politik; und die schließt die jüngste Vergangenheit mit ein) und an die Zukunft –
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