Die Erfindung der Einsamkeit
wie in dem Ausdruck: «Nächstes Jahr in Jerusalem». Darüber hinaus verbindet man diese Gedanken mit allem, was einem schon über die Figur, die nach Jerusalem geht, bekannt ist, und verwendet diese neue Synthese, um weitere Schlüsse zu ziehen, um Beobachtungen zu verfeinern und schärfer über das Buch als Ganzes nachzudenken. Und wenn das Werk beendet ist, wenn die letzte Seite gelesen und das Buch zugeklappt ist, beginnt man zu interpretieren: psychologisch, historisch, soziologisch, strukturell, philologisch, religiös, sexuell, philosophisch – je nach Neigung, entweder auf eine Weise allein oder in verschiedenen Kombinationen. Gewiss kann man auch ein reales Leben nach irgendeinem dieser Systeme interpretieren (schließlich gehen die Leute zu Priestern und Psychologen; versuchen manche Leute ihr Leben in einem historischen Kontext zu begreifen), aber das hat nicht die gleiche Wirkung. Da fehlt etwas: die Größe, die Macht des Allgemeinen, die Illusion metaphysischer Wahrheit. Man sagt: Don Quichotte handelt von einem Bewusstsein, das im Reich des Phantastischen durcheinandergeraten ist. Man sieht einen Verrückten in der Realität (zum Beispiel A. seine schizophrene Schwester) und sagt nichts. Und das ist vielleicht das Traurige eines vergeudeten Lebens – aber mehr auch nicht.
Hin und wieder ertappt sich A. dabei, dass er ein Kunstwerk mit dem gleichen Blick betrachtet, mit dem er die Welt betrachtet. Man zerstört das Phantastische, wenn man es auf diese Weise wahrnimmt. Er denkt zum Beispiel an Tolstois Schilderung der Opfer in Krieg und Frieden . Nichts wird in dieser Passage für voll genommen, alles wird ad absurdum geführt. Einfach, indem er es beschreibt, macht Tolstoi sich über alles lustig, was er sieht. «Im zweiten Akt waren Grabsteine auf die Pappwände gemalt, in der Leinwand hinten war ein Loch, das den Mond darstellte, die Lampen an der Rampe hatte man mit Schirmen abgeblendet, die Trompeten und Bässe spielten ganz tiefe Noten, und von rechts und von links kamen eine Masse Leute in schwarzen Mänteln heraus. Diese Leute begannen mit den Armen zu fuchteln, und in den Händen hatten sie eine Art Dolch. Dann kamen noch andere Leute herzugelaufen und fingen an, jenes Mädchen, das erst das weiße Kleid angehabt hatte und jetzt ein himmelblaues trug, mit Gewalt fortzuschleppen. Aber das taten sie nicht plötzlich und mit einem Mal, sondern sangen erst noch ein langes und breites Hin und Her, bis sie es dann wirklich forttrugen. Darauf schlug jemand hinter der Bühne dreimal auf etwas Metallisches, und alle fielen auf die Knie und sangen ein Gebet. Ab und zu wurde diese Handlung von den entzückten Beifallskundgebungen der Zuschauer unterbrochen.»
Es gibt auch die ähnliche, nur entgegengesetzte Versuchung, die Welt so zu betrachten, als wäre sie eine Erweiterung des Phantastischen. Auch dies ist A. zuweilen passiert, aber er ist nicht geneigt, darin eine ernstzunehmende Lösung zu sehen. Wie jeder andere sehnt er sich nach einem Sinn. Wie bei jedem anderen ist sein Leben so fragmentarisch, dass er jedes Mal, wenn er eine Verbindung zwischen zwei Fragmenten erkennt, in Versuchung gerät, in dieser Verbindung einen Sinn zu suchen. Die Verbindung besteht. Doch wollte er ihr einen Sinn beilegen und hinter die nackte Tatsache ihres Bestehens blicken, würde er nur in der realen Welt eine imaginäre errichten, und er weiß, dass die keinen Bestand haben kann. In seinen tapfersten Momenten akzeptiert er die Sinnlosigkeit als oberstes Prinzip, und dann ist ihm seine Verpflichtung klar, dass er zu sehen hat, was vor ihm ist (auch wenn es zugleich in seinem Innern ist), und dass er sagen muss, was er sieht. Er ist in seinem Zimmer in der Varick Street. Sein Leben hat keinen Sinn. Das Buch, an dem er schreibt, hat keinen Sinn. Es gibt die Welt, und es gibt die Dinge, denen man in der Welt begegnet, und in der Welt sein heißt, von diesen Dingen zu sprechen. Ein Schlüssel bricht in einem Schloss ab, und etwas ist geschehen. Soll heißen: Ein Schlüssel ist in einem Schloss abgebrochen. Ein und dasselbe Klavier scheint an zwei verschiedenen Orten zu existieren. Ein junger Mann landet in demselben Zimmer, in dem zwanzig Jahre zuvor sein Vater mit den Schrecken der Einsamkeit gekämpft hat. Ein Mann begegnet auf einer Straße in einer fremden Stadt seiner alten Liebe. Es bedeutet nur, was es ist. Nicht mehr, nicht weniger. Dann schreibt er: Dieses Zimmer zu betreten heißt, an einem Ort zu
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