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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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vorüber.
    »Martin?«
    »Hm?«
    »Geht’s dir schlecht?«
    »Nein.«
    »Was ist los?«
    »Lass uns zum Auto gehen.«
    Der dunkelblaue Vectra stand direkt an der Hauptstraße. Sonja stieg auf der Fahrerseite ein, und Heuer setzte sich neben sie. Ein Linienbus rauschte an ihnen vorbei, und als Sonja das Fenster ein Stück öffnete, hörte sie von fern das Brummen des Hubschraubers, der über dem Ostfriedhof kreiste und die Gegend nach Raphael absuchte.
    »Wir müssen ins Büro zurück«, sagte Heuer.
    »Ja«, sagte Sonja. Aber sie fuhr nicht los. Der Scheibenwischer quietschte, weil die Windschutzscheibe voller Schlieren war. Dann drückte sie den Knopf auf der Konsole, und das Seitenfenster glitt hoch. Obwohl sie auf einer viel befahrenen Straße standen, war es im Wagen bei geschlossenen Fenstern stiller als im Dezernat.
    »Ich bin müde«, sagte Heuer und hielt die Hände vors Gesicht, die Finger gespreizt, so dass er zwischen ihnen hindurchschauen konnte. »Die Sache mit dem Schwarzen hat mich geschlaucht, ich komm einfach nicht drüber weg.«
    Vor fünf Wochen war ein elfjähriger Nigerianer verschwunden, dessen Eltern illegal in München lebten und die sich nicht trauten, zur Polizei zu gehen. Ein zwölfjähriger Freund des Jungen erstattete heimlich Vermisstenanzeige. Die Eltern weigerten sich zuzugeben, dass sie ein Kind hatten. Es war ein Drama. Der Vater drohte mit Selbstmord, dann schaltete sich das Innenministerium ein und forderte die sofortige Ausweisung des Ehepaars, was zu einem Streit zwischen Kriminaloberrat Funkel und Staatssekretär Hauser führte, der sich für das Schicksal des verschwundenen Buben nicht zuständig fühlte. Funkel war das egal, und er erreichte zumindest, dass die Eltern bleiben durften, bis der Junge gefunden wurde; Jackson war sein Name. Nach neunzehn Tagen entdeckte ein Wärter den halb verhungerten Jackson in einem Zebrastall im Tierpark Hellabrunn; er hatte sich unbemerkt aufs Gelände geschlichen und die ganze Zeit dort verbracht. Zu den Tieren, sagte er, als Heuer und Weber ihn abholten und ins Krankenhaus brachten, habe er mehr Vertrauen gehabt als zu den Menschen, und diese Bemerkung erschien Heuer nicht im Geringsten absurd. Vor ein paar Tagen nun waren die Eltern mit Jackson in ihre Heimat abgeschoben worden, und Heuer hätte am liebsten den Innenminister, den höchsten Vorgesetzten aller bayerischen Polizisten, angerufen und ihm gesagt, für was für einen ekelhaften Politiker er ihn hielt; doch vermutlich hätte das den Minister ebenso wenig interessiert wie das Elend dieser von Folter bedrohten afrikanischen Familie.
    Nicht lange davor hatte es Heuer mit einer der schrecklichsten und spektakulärsten Vermisstensachen zu tun gehabt, dem Fall der zweiundzwanzigjährigen Lucia Simon. Vier Monate lang waren einhundertzwanzig Polizisten rund um die Uhr im Einsatz gewesen, und die öffentliche Stimmung gegen die erfolglosen Fahnder erreichte einen Grad der Gereiztheit, wie sie noch niemand im Dezernat 11 je erlebt hatte.
    »Und jetzt haben wir wieder einen heiklen Fall, und ich komm nicht zum Schlafen«, sagte Heuer und lehnte den Kopf ans Seitenfenster.
    »Hättst dich eben am Wochenende ausschlafen sollen«, sagte Sonja.
    »Hab ich versucht, hat nicht geklappt.«
    »Und dann warst du wieder unterwegs.«
    Er erwiderte nichts, und sie ließ den Motor an.
    »Hast du was von ihm gehört?«, fragte er, und Sonja, die gerade dabei war auszuparken, trat auf die Bremse.
    »Das fragst du mich jeden Montag, und ich sag dir jeden Montag: Er hat nicht angerufen.«
    »Sein Antrag läuft in dieser Woche aus.«
    »Glaubst du, das weiß ich nicht?«
    »Fahr los, wir haben es eilig.«
    Sie gab Gas und nahm die Strecke über die Eintrachtstraße, am Ostfriedhof entlang und dann den Nockherberg hinunter in Richtung Fraunhoferstraße. Fahrradfahrer düsten waghalsig über die Straßen, und Sonja scheuchte sie hupend weg.
    »Wenn er sich diesmal wieder weigert zurückzukommen, wirft ihn Volker endgültig raus«, sagte Heuer. »Und dann kann ihm auch Charly nicht mehr helfen. Sie werden ihn in Abwesenheit suspendieren, und zwar ohne lange Diskussion, und wenn’s ganz schlimm kommt, dann schon heute oder morgen.«
    »Ist mir doch egal«, sagte Sonja.
    Sie wussten beide, dass es eine Lüge war.
     
    In der engen Wohnung roch es nach Kraut und altem Fett, überall lagen Pappschachteln herum, Verpackungen von Lebensmitteln und Elektrogeräten. Das Zimmer, in dem die drei Männer und die Frau

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