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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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kunstvoll gesteckte Buketts, und es gab eine Höflichkeit und Schönheit wie nirgendwo sonst; und sie war die Chefin und trug ein schlichtes blaues Kleid oder einfach Hose und Blazer und an ihrer linken Hand einen Ring, den sie sich selbst zum Geburtstag geschenkt hatte; sie ging durch die Räume und bestimmte das Geschehen, und manchmal wurde sie wütend, weil die Zimmermädchen schlampig arbeiteten oder das Personal vergessen hatte, in die verzierten Vasen frische Gladiolen oder Hyazinthen zu stellen; alles um sie herum musste sein, wie sie es bestimmte, und dafür wurde sie bewundert, und die Gäste brachten ihr Geschenke aus Ländern mit, von denen sie nicht einmal wusste, wo sie lagen; es war kein Leben in Saus und Braus, sie musste jeden Tag sechzehn Stunden arbeiten, aber dafür hatte sie nachts helle Träume, bestimmt hatte sie helle Träume, sie war sich ganz sicher, und am nächsten Morgen stand sie auf und war in ihrer eigenen Welt, in ihrem eigenen Haus, und wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie eine Frau, die sie wiedererkannte.
    Sie saß im Treppenhaus, das nach scharfen Putzmitteln roch und genauso sauber wie schäbig war. Sie saß so lange auf der kalten Stufe, bis sie das Telefon klingeln hörte und erschrak.
    Beim Betreten der Wohnung wunderte sie sich ein wenig darüber, dass sie nicht mehr fror.
    »Mama?«
    »Raphael! Lieber Gott, wo bist du denn? Ich hab …«
    »Ich komm nicht heim, Mama, ich bleib da, wo ich bin, und dann geh ich wahrscheinlich weg …«
    »Raphael, bitte, sag mir, wo du bist? Ich hab so Angst um dich …«
    »Hab keine Angst, Mama, mir geht’s gut, ich krieg sogar was zu essen, Gustl ist total nett zu mir …«
    »Wer ist Gustl, Raphael? Raphael!«
    »Ich hab Opa einen Brief geschrieben …«
    »Was? Was denn für einen Brief? Raphael, wer ist Gustl? Wer ist das? Ein Mann? Was will der von dir? Hat er dir wehgetan?«
    »Nein, Mama.«
    »Kann ich mit ihm sprechen?«
    »Ich leg jetzt auf, Mama …«
    »Nein, nicht auflegen, Raphael, bitte, bitte leg nicht auf! Sag mir, wo du bist! Wieso bist du denn heut früh einfach weggegangen, ohne mir was zu sagen? Ich bin so erschrocken, als ich in dein Zimmer gekommen bin …«
    »Wieso ist Opa gestorben, Mama?«
    »Was? Das … er … Opa war sehr krank, Raphael, das hast du doch gewusst. Er war doch im Krankenhaus, und …«
    »Aber wieso ist er gestorben?«
    »Weil … weil … ich kann dir das nicht am Telefon erklären, ich erklär’s dir, wenn du nach Hause kommst. Bitte, sag mir, wo du jetzt bist!«
    »Ich hab Papa angerufen, aber er ist nicht da gewesen, bloß diese Frau, die nicht richtig sprechen kann, sie hat gesagt, sie weiß nicht, wo er ist, ist er bei dir?«
    »Nein, er war hier, aber dann ist er wieder gefahren, zu dieser Frau …«
    »Die mag ich nicht.«
    »Dein Papa hat gesagt, er macht sich große Sorgen um dich, willst du nicht zu ihm gehen, er wartet auf dich.«
    »Nein, ich geh nicht mehr zu euch, ihr habt mich immer bloß angelogen, ich geh nicht mehr zu euch, ich geh Opa suchen, ja genau …«
    »Raphael, mein Gott, was sagst du denn da? Raphael! Hallo? Hallo? Raphael? Bitte, sprich mit mir, bitte, ich weiß doch, dass du noch dran bist, sprich doch mit deiner Mama …«
    »Wieso ist Opa gestorben, Mama?«
    »Aber das … er ist … Raphael? Lieber! O mein Gott! Bitte! Bitte! Ich … hab dich … so … lieb.«

4
    Die Wiege der Lüge
    B is um drei Uhr nachmittags hatten sie vierzehn Personen vernommen, freundliche, gesprächsbereite Leute aus dem sechsstöckigen Wohnblock an der Schlierseestraße, wo Georg Vogel die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, am Anfang gemeinsam mit seiner Frau Hanne und zuletzt allein, was ihm, wie alle Befragten Sonja Feyerabend und Martin Heuer versicherten, nichts ausgemacht habe. Der Schorsch, sagten sie, langweilte sich nie, weil er entweder mit seinem Enkel durch die Stadt oder die Isarauen streunte oder seine freie Zeit im Keller verbrachte, in seiner eigenen Stadt.
    Eigentlich war es mehr ein Dorf. Es gab ein Sägewerk, vor dem sich ein großer Lagerplatz mit gleichmäßig langen, sauber geschnittenen Baumstämmen befand, dahinter Wald und davor eine Straße, die parallel zu einer Eisenbahnlinie verlief. Drei Schienenstränge trafen sich im Bahnhof, einem grauen Gebäude mit roten Fensterläden, vor dem Fahrgäste auf die Ankunft des Zuges warteten. Rechts und links der ungefähr drei Meter langen und zwei Meter breiten Gleisanlage

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