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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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saßen, war Wohn- und Schlafzimmer in einem, ein fünfzehn Quadratmeter großer Raum mit einem ausziehbaren Sofa, einem Fernseher, einem Tisch, einem schiefen Schrank, dessen Türen nicht mehr zugingen, und einer Stehlampe mit Bommeln am ausgebleichten Schirm.
    Thomas Vogel und seine Freundin saßen auf dem braunen, ausgeleierten Sofa und Hauptkommissar Paul Weber mit seinem jungen Kollegen Andy Krust auf zwei nagelneuen Bürostühlen ihnen gegenüber. Weber schätzte die Frau auf höchstens achtzehn, sie stammte aus Serbien, sprach schlecht Deutsch – oder sie tat nur so, da war sich Weber nicht sicher – und trug ein samtrotes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und eng geschnitten war. Sie war blass, und in der dürftigen Beleuchtung sah sie bleich aus und überhaupt nicht wie eine Tänzerin, die sie vorgab zu sein.
    »Was wollen S’ denn jetzt noch, jetzt reicht’s langsam, meine Freundin ist müde, die muss hart arbeiten heut Abend«, sagte Vogel, der seine Lederkrawatte abgelegt hatte und unaufhörlich Pistazien aß.
    »Ich will Sie nicht quälen, Frau Gros …« sagte Weber.
    »Groscic«, sagte Eva Groscic und wischte sich mit einer flinken Bewegung eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht.
    »Ja, gut, Frau Groscic, ich sag’s nochmal, ich kann nicht glauben, dass Raphael nur angerufen hat, ohne was zu sagen. Wir wissen von seiner Mutter …«
    »Die weiß gar nichts. War die vielleicht dabei? Also!« Vogel pulte eine Pistazie auf und warf den Kern wie eine Pille in den Mund.
    »Wir wissen von seiner Mutter, dass Raphael hier angerufen und gesagt hat, er möchte seinen Vater sprechen. So haben Sie das, Herr Vogel, Ihrer Frau erzählt, oder nicht?«
    »Ich hab gar nix erzählt, ich bin sofort losgefahren, nachdem Eva mich angerufen hat. Ich bleib doch da nicht länger in dieser Wohnung, ich bin sofort hierher gekommen …«
    »Dann haben Sie Ihre Frau also angelogen«, sagte Andy Krust und schaute von seinem Notizblock auf. Er war sechsundzwanzig und untersetzt; in wenigen Jahren würde er dick sein, das garantierte schon sein hoher Nudel- und Nachspeisenkonsum, um den Weber ihn beneidete, obwohl er selbst mit einundsechzig Jahren noch daran glaubte, eines Tages seinen Bauch loszuwerden.
    »Was? Was hab ich?«, sagte Vogel, spuckte einen Pistazienkern aus und beugte sich vor. »Ich hab niemand angelogen, verstehst du mich? Schreib da ja nichts Falsches auf, sonst gibt’s massiv Ärger, das kann ich nämlich nicht leiden, wenn jemand versucht, mich zu verarschen, verstehst?«
    »Wenn Sie mich bitte siezen wollen, Herr Vogel.« Das war einer von Krusts Standardsprüchen, er brachte ihn immer wieder, weil ihn die meisten Leute wie ein Kind behandelten; Frauen allerdings nie.
    »Ist schon recht«, sagte Vogel und lehnte sich zurück. Dann schaute er auf seine Armbanduhr, und sein Oberkörper schnellte wieder nach vorn. »Zieh dich um, Eva, in einer halben Stunde ist Antritt. Sonst noch Fragen?«
    »Ja«, sagte Weber, »wir möchten jetzt mit Frau … Groscic allein sprechen. Wenn Sie bitte solange draußen warten.«
    »Wirklich nicht! Die hat alles gesagt, was sie weiß. Der Junge hat angerufen und gesagt, dass er mich sprechen will, also! Und jetzt sorgen Sie gefälligst dafür, dass Sie ihn finden. Wofür bezahl ich die ganzen Steuern, ha?«
    »Dann haben Sie also gelogen«, sagte Andy Krust, unbeeindruckt von Vogels Herumgefuchtel, zu Eva.
    »Nein, nein«, sagte sie schnell, »hab nicht gelogen, nix, Wahrheit, alles Wahrheit …«
    »Bitte lassen Sie uns einen Moment allein, Herr Vogel!«, sagte Weber.
    Vogel lehnte sich zurück, legte den Arm um Evas Schulter und grinste. Wer ihn so dasitzen sah, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass Vogel sich auch nur die geringsten Sorgen um seinen verschwundenen Sohn machte.
    Weber hatte keine Möglichkeit, Vogel zu zwingen, das Zimmer zu verlassen. Das war eine jener verzwickten Situationen, mit der die Fahnder bei nahezu jedem Vermisstenfall konfrontiert wurden: Sie durften keine, wie es im Juristendeutsch hieß, Rechtseingriffe vornehmen, da es keine Straftat gab. Sogar das plötzliche Verschwinden eines Kindes war an sich noch keine Straftat, niemand, auch nicht die Eltern, hatte sich, solange keine Verdachtsmomente auftauchten, eines Verbrechens schuldig gemacht. Wenn Vogel sich weigerte, mit der Polizei zu kooperieren, so erschwerte das ihre Arbeit und entlastete ihn nicht gerade vom Vorwurf, ihm sei das Leben seines Kindes egal, aber

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