Die Erfindung des Abschieds /
standen ein- bis zweistöckige bemalte Fachwerkhäuser, vor denen sich die Bewohner in einer Grünanlage unterhielten, überall wuchsen Bäume und Sträucher. Mitten im Dorf auf dem Marktplatz, dessen Schmuckstücke ein Ziehbrunnen und ein weißblauer Maibaum waren, stand der Riese Godzilla, die wuchtigen Pranken erhoben, und schien drauf und dran zu sein, das ganze Dorf niederzutrampeln; seine vier Finger hatten Krallen, die ebenso rot waren wie seine überdimensionalen Fußnägel; die massige Gestalt mit dem plumpen Affenschädel thronte wie ein grüner schuppiger Geist über der idyllischen Szenerie, die sich im Hintergrund eigenartig veränderte: Das Gleis machte eine Kurve und führte schnurstracks auf einen großen, blauen See zu, in dessen Mitte eine Insel mit einem roten Felsen lag. Fähren und Fischerboote trieben im Wasser, auf einer Brücke, die aussah wie die Golden Gate Bridge, führte das Gleis über das Wasser bis hinüber zur Insel, wo es einen Hafen mit Anlegesteg, Kneipe und Zollhäuschen gab. Menschen standen da und winkten, und einige hatten Reisetaschen bei sich. Am Rande des roten Felsens ragte ein Leuchtturm in den Himmel, der sich wie ein Baldachin in Regenbogenfarben über die Insel wölbte und aus Pappe war.
»Das ist übrigens echtes Gras«, sagte Rolf Schütz, der Hausmeister, und zeigte auf die grünen Flecke der Modelleisenbahn, die den gesamten Kellerraum ausfüllte. »Und der Schotter ist gefärbter Kaffeesatz, das werden Sie nicht glauben, aber angeblich haben die das in der DDR früher so gemacht.«
»Bei ihrer Eisenbahn?«, fragte Heuer, der die Anlage staunend wie ein kleiner Junge betrachtete und besonders von den Waggons fasziniert war, die den Originalen bis ins Detail glichen.
»Sie sind ein Spaßvogel, Herr Kommissar! Doch nicht bei ihrer Eisenbahn, im Modellbau natürlich, so schlimm war’s da drüben auch wieder nicht.«
Auch Sonja war von der Lebendigkeit und täuschenden Echtheit der Modelleisenbahn angetan, Heuer musste sie auffordern, sich endlich loszureißen.
»Der Mann hat viel Zeit gehabt«, sagte sie, als sie durch den kalten Kellerflur nach oben gingen. Sie hatten die übrigen Abteile inspiziert, aber nirgends versteckte sich ein kleiner Junge.
»Der Schorsch war ein Schienenfreak«, sagte Schütz und sperrte die schwere Eisentür ab, die zu den Kellerräumen führte. »Und sein Enkel war auch schon angesteckt. In den letzten Monaten haben sie dauernd an dieser Brücke rumgebastelt, die zur Insel rübergeht, Sie haben’s ja gesehen. Ist schon ein Kunstwerk. Aber so ein Aufwand! Für mich wär das nichts, so Tüftelzeug, ich brauch was Handfestes.«
Es hatte aufgehört zu regnen, aber es war immer noch grau und kühl. Als sie vor die Haustür traten, zog Heuer den Reißverschluss seiner Bomberjacke hoch und mummelte sich ein, als erwarte er jeden Moment einen arktischen Klimasturz.
»Ich halt meine Augen offen, das ist ja logisch. Wenn der Junge auftaucht, schnapp ich ihn mir und halt ihn fest, versprochen!« Klirrend ließ Schütz den Schlüsselbund in die Tasche seines Blaumanns fallen.
»Im Gegensatz zu den anderen Mietern hatte Herr Vogel einen ziemlich großen Keller«, sagte Sonja. Es gefiel ihr nicht, dass Martin schon den ganzen Tag fror, nichts aß und merkwürdig abwesend wirkte.
»Das war früher eigentlich unser Fahrradkeller …«
»Was? Entschuldigung …« Sie hatte Martin dabei zugesehen, wie er sich in seine Jacke verkroch, den Kragen hochschlug und die Hände in den Taschen vergrub.
»Das war der Raum für die Fahrräder«, sagte Schütz und schaute zwischen Sonja und Heuer hin und her; irgendwie hatte er sich Kriminalbeamte anders vorgestellt, wie, wusste er nicht genau, jedenfalls nicht mit strohblondem Kurzhaarschnitt und so ausgemergelt. »Aber als der Schorsch mit seinem Hobby angefangen und uns gefragt hat, ob er da unten einziehen kann, hatte niemand was dagegen. Den Schorsch kannte jeder, und jeder mochte ihn, das war kein Problem. Und die Fahrräder stehen jetzt im Gang oder im Hinterhof, da klaut keiner was, hier wohnen lauter anständige Leute.«
»Ja«, sagte Sonja. »Auf Wiedersehen.«
»Wiederschaun.« Schütz warf Heuer einen Blick zu, aber der hatte ihm den Rücken zugekehrt und hielt sein Handy ans Ohr.
»Charly? Hier spricht Martin. Hier ist alles ruhig, kein Raphael. Schick eine Zivilstreife vorbei, vielleicht kommt er ja noch. Im Keller gibt’s eine Mordseisenbahn, ja, mit der haben beide immer gespielt,
Weitere Kostenlose Bücher