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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Superanlage, Gleise, Weichen, Brücken, Häuser. Hast du schon was von der Bundesbahn gehört?« Währenddessen ging Sonja zur Straße. Auf der anderen Seite der Schlierseestraße zog sich ein dreistöckiger ockerfarbener Wohnblock entlang, in dessen Hinterhof weitere Häuser standen, ein geschlossenes Ensemble mit Rasenflächen, Wäschestangen, Garagen und einem Spielplatz. Dort, in einem grünen Gebäude, war Sonja jahrelang regelmäßig zu Gast gewesen, in der Zweizimmerwohnung, in der ihr Freund wohnte, ihre Liebe. Die Wohnung lief immer noch auf seinen Namen, und er bezahlte die Miete, obwohl er das letzte Mal vor mehr als neun Monaten dort gewesen war.
    Sie schaute hinüber und versuchte vergeblich, nicht an ihn zu denken.
    »Kleine Welt«, sagte Heuer, der plötzlich neben ihr stand und wusste, was in ihr vorging.
    »Zu groß, um ein verschwundenes Kind zu finden«, sagte sie. »Da vorn ist ein Café, ich brauch was zu trinken.«
    Sie gingen hin, bestellten Kaffee und Tee und Sonja ein Nusshörnchen extra. Heuer berichtete, was Karl Funkel, der die neu zusammengestellte Sonderkommission Raphael leitete, ihm erzählt hatte. »Paul hat mit den Kollegen das Haus in Pasing durchsucht, der Junge war nicht da. Weber hat mit einer Nachbarin gesprochen, die Raphael frühmorgens gesehen hat, die dachte, er geht zu seinem Großvater. Um halb sechs! Er ist nicht zurückgekommen, so viel steht fest.«
    Zu einer der ersten Aktionen, die die Polizei startet, wenn ein Kind als vermisst gemeldet wird, gehört das gründliche Durchsuchen des Elternhauses. Es passiert immer wieder, dass sich die Ausreißer dort verstecken, wo sie sich am besten auskennen, im Keller, auf dem Speicher, in einem Abstellraum, im Gartenhäuschen. Einmal hatten die Polizisten einen Jungen im Schlafzimmerschrank seiner Eltern entdeckt, nachdem er angeblich nicht von der Schule heimgekommen war und die Mutter in heller Aufregung die Polizei alarmiert hatte. Gleichzeitig suchen die Fahnder sämtliche Verwandte und Bekannte der Familie auf, Personen, zu denen das Kind eine Beziehung hat, dazu zählen auch Schulfreunde, von denen stets mindestens einer irgendetwas weiß; dass ein Kind abhaut, ohne vorher mit einem engen Vertrauten darüber zu sprechen, kommt höchst selten vor.
    »Freya ist noch mal zu diesem Mädchen gefahren, dieser Tochter von dem Schauspieler, sie meint, die hat ihr was verschwiegen«, sagte Heuer, schüttete Zucker in seinen Tee, die dritte Ration, rührte um und schien das Klacken des Löffels, der gegen das Glas schlug, nicht zu hören, während er weitersprach. Sonja nervte das Geräusch. »Von BKA und LKA gibt’s auch noch keine Neuigkeiten, die haben die Meldung im System, aber das ist es dann erst mal. Der Junge ist bisher nicht aufgefallen, keine Diebstähle, kein Schwarzfahren, keine Sachbeschädigung, nichts, ein unbescholtener kleiner Bürger. Und wir haben auch nichts Neues anzubieten. Der Typ hat einen Zettel ans Grab gesteckt, und wir haben’s nicht mitgekriegt. Ich schwör’s dir, der ist hier in der Nähe, hier, wo der Großvater gewohnt hat und wo er jetzt beerdigt wurde. Hoffentlich tut er sich nichts an.«
    »Angeblich ist er nicht suizidgefährdet, hast du doch gehört«, sagte Sonja, pickte die Brösel mit dem Finger auf und leckte ihn ab.
    »Das hat die Mutter gesagt. Und die hat ja offensichtlich nicht viel Ahnung, was mit ihrem Kind los ist. Immer dasselbe«, sagte er, und seine Miene wurde finster und hart.
    In den acht Jahren, in denen Martin Heuer in der Vermisstenstelle arbeitete, war er noch keinem Elternpaar eines weggelaufenen Kindes begegnet, das ihn nicht angelogen hätte. Sie logen alle, und einige von ihnen weigerten sich sogar, bei der Suche die Presse einzuschalten, weil dann herausgekommen wäre, dass in der Familie Krieg herrschte und das Kind geflüchtet war, weil seine Eltern es abwechselnd als Freund oder Feind behandelten, je nachdem, wie es gerade in ihre Partnervernichtungsstrategie passte. Für Heuer war die Familie die Wiege der Lüge, und bevor er jemals selbst ein Kind in die Welt setzen würde, wollte er sich lieber erschießen.
    »Ich glaub auch, dass er hier in der Nähe ist«, sagte Sonja und stellte die Tasse auf den Kuchenteller. »Und ich glaub nicht, dass er sich umbringen will.«
    »Was du glaubst, ist egal. Meinst du, der fragt dich vorher, bevor er sich aufhängt?« Heuer schaute zum Fenster hinaus. Auf dem Bürgersteig bretterten zwei Jungs mit Mountainbikes

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