Die Erfindung des Abschieds /
Mensch, auf den er hört …«, sagte er.
»Ich hab dich nie mit ihm betrogen«, sagte sie plötzlich, und er nickte. »Ich hab nie mit ihm geschlafen, als wir zusammen waren, glaubst du mir das?«
»Ja.« Er küsste ihre blonden Stoppelhaare, und sie kitzelten ihn an der Nase.
»Was ist los mit uns? Wieso benehmen wir uns nicht wie erwachsene Leute und machen unsere Arbeit und bringen unser Chaos in Ordnung?« Sie hob den Kopf, und ihre Augen färbten eine von Funkels Erinnerungen dunkelgrün.
»Das tun wir doch«, sagte er und drückte sie an sich, und sie ließ es geschehen.
»Meinst du?«, fragte sie leise, und nun kitzelten seine Bartstoppeln sie wieder an der Nase. Ihre Arme hingen an ihr herab, und Funkel fuhr ihr mit der flachen Hand sanft über den Rücken. Sie schwiegen, einander zugetan wie früher, als sie ein Liebespaar waren, das sich stundenlang die Worte schenkte.
»Wann fährst du?«, fragte er.
»Erst schlaf ich drei Stunden.«
»Das ist gut.«
»Danke für deine Geduld«, sagte sie, und er verscheuchte seine grüne Erinnerung und ließ Sonja los.
»Lass dir von den Kollegen vor Ort erklären, wo genau diese Hütte liegt«, sagte er, sah auf seine Armbanduhr, ging zum Schreibtisch und setzte sich. Er hatte vergessen, was er als Nächstes tun wollte.
Sie beobachtete ihn.
»Noch was vergessen?«, fragte er, ohne aufzuschauen.
»Ja«, sagte Sonja. Sie beugte sich über den Schreibtisch, küsste ihn auf die schwarze Klappe über dem linken Auge, streichelte seine rechte Wange und verließ das Zimmer.
Er saß da und schaute zur Tür, und der Regen synchronisierte sein Schweigen.
Die Plastikbehälter mit den Musikkassetten klapperten während der Fahrt. Es war kalt im Auto. Aber Sonja weigerte sich, die Heizung anzustellen. Gerade wollte sie das Radio ausschalten, als eine Gruppe namens Various Artists den Song »Perfect Day« von Lou Reed in einer Schnulzenversion zunichte machte; zum Glück störte ein Tankwagen, der sie auf der geraden Strecke zwischen Hagl und Ried überholte, den Empfang. Der Wind klatschte den Regen gegen die Windschutzscheibe. Sie schaltete in den dritten Gang herunter und ließ den Tankwagen davonpreschen.
Die Bundesstraße verlief nun parallel zu einer Bahnlinie, auf der in diesem Moment ein grauer Bummelzug im gleichen Tempo wie Sonjas blauer Lancia auftauchte. Die Dörfer an den östlichen Ausläufern einer Moorlandschaft lagen träge im trüben Nachmittagslicht. Die meisten Autos fuhren mit eingeschaltetem Licht. Wie fleischige Statuen standen die braunen Kühe auf den Wiesen, reglos wiederkäuend, trostlos wie das Wetter. Statt leuchtender Blumenfelder und sattgrüner Weiden bot die Landschaft sechzig Kilometer südlich von München einen mageren Anblick, ein Panorama verwaschener Farben mitten im Sommer. Über den Berggipfeln in der Ferne hingen fette Wolken, und man hatte den Eindruck, das Elend dieser Jahreszeit würde nie wieder enden.
»It’s such a perfect day … you just keep me hanging on …« Jetzt reichte es ihr, und mit einer schnellen Handbewegung drehte sie den Knopf nach links. Stille. Das leise Quietschen des Scheibenwischers. Das Klappern der Kassettenbehälter. Das kurze Brummen der entgegenkommenden Autos. Und ein Gesang, den weder der Regen noch das Motorengeräusch übertönte – aus den Wäldern ringsum, den Büschen und Sträuchern und aus der Luft ertönte ein Schilpen, Zwitschern und Tirilieren. Sonja beugte sich vor und blickte durch die Windschutzscheibe nach oben, wo unzählige kleine schwarze Vögel kreisten; als Sonja die Anhöhe oberhalb von Taging erreichte, zerstreute sich der Schwarm, und ihr Blick fiel auf den Zwiebelturm der weißen Kirche unten im Tal. Er kam ihr vor wie eine drohende Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger. Sie drückte aufs Gas und raste mit hundert Stundenkilometern die kerzengerade Straße hinunter, die früher, als Tabor Süden noch hier gelebt hatte, eine bucklige Allee war mit einer Haarnadelkurve am Ende, in der jedes Jahr mindestens fünfzehn Menschen tödlich verunglückten; inzwischen waren die Bäume gefällt und die gefährlichen Kurven vor der Ortseinfahrt begradigt worden, es gab weniger Unfälle, und alle waren zufrieden.
Der blaue Lancia fegte über die nasse Straße, und erst als links eine Tankstelle und rechts der Bahnhof auftauchten, bremste Sonja ab, griff auf den Beifahrersitz und hielt sich einen Rest Obstkuchen unter die Nase: Der Duft frischer Erdbeeren versöhnte sie
Weitere Kostenlose Bücher