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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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an!«
    Als er in seinen Wagen stieg, wurde die Melodie in ihm so mächtig, dass er es nicht schaffte, in der Bayerstraße auszusteigen und ins Büro zu gehen. Stattdessen fuhr er weiter in die Albrechtstraße im Stadtteil Neuhausen. Er parkte den Wagen und ging zum Haus Nummer 27, klingelte, und als niemand öffnete, versuchte er es bei einem anderen Namen, so lange, bis jemand den Summer betätigte. Er rief ein lautes »Danke« ins Treppenhaus und blieb vor der Tür rechts im Parterre stehen.
    Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, an dem ein kleiner Dietrich hing, öffnete mühelos die Tür, schloss sie leise und stand im schmalen Flur einer dunklen Zweizimmerwohnung.
    Überall roch es nach Rauch. Die blaue Bettdecke war zurückgeschlagen und das Bett leer. Auf dem ovalen Marmortisch im Wohnzimmer stand ein voller Aschenbecher, und in der aufgeräumten Küche tropfte der Wasserhahn. An den Fenstern hingen keine Gardinen, trotzdem kam wenig Licht herein.
    Auf einem Klappstuhl entdeckte Süden einen Schuhkarton voller Papiere. Er knipste die Stehlampe an. Es waren Briefe, mindestens zwanzig; und sie waren alle an denselben Mann adressiert und nie abgeschickt worden. Jeder Brief begann mit der Anrede:
Lieber Tabor,
und endete mit:
Dein Freund Martin.
    Jetzt verstummte die Melodie in ihm, und Martins Stimme, die er plötzlich hörte, zwang ihn, die Stille dieser verlassenen Wohnung zu ertragen – so wie Martin die Abwesenheit seines Freundes hatte ertragen müssen, Tag um Tag von neuem wie eine endlose Strafe.
    Das begriff Tabor Süden, als er die Briefe las, jeden Satz mehrere Male.
    Und er wollte Martin um Verzeihung bitten.
    Und er blieb mit seinem Wollen allein.
     
    »Das war aber schlau vom Gustl, dass er mich im Keller versteckt hat«, sagte Raphael. Er hatte einen marmeladeroten Mund mit weißen Punkten von der Milch, die ihm Oberfellner heiß gemacht hatte und die ihm nicht schmeckte.
    »Ist H-Milch«, sagte Oberfellner und schaute zum zwanzigsten Mal aus dem Fenster, ob womöglich ein Polizeiauto vorfuhr.
    Die Polizisten, die ihn befragt hatten, waren freundlich gewesen, aber er traute ihnen nicht. Und sie, da war er sich sicher, trauten ihm auch nicht; und zu Recht. Er hatte gelogen, als sie ihn fragten, ob es stimme, dass er und sein Freund August den Jungen auf dem Friedhof gesehen haben; für so dämlich hätten sie ihn nicht halten sollen, da kannte er den Gustl besser als sie, der würde ihn nie verraten oder mit reinziehen. Wenn der Gustl was zugeben würde, dann nur etwas, das ihn betraf, der war kein Verräter, und er, Frankyboy, auch nicht. Junge Schnösel! Glaubten wohl, sie hätten es mit einem Idioten zu tun! Was bildeten die sich ein! Einer von ihnen hatte sogar einen Ring im Ohr, und das bei der Polizei! Mit mir nicht!
    Er hatte sie sogar hereingebeten, und dann hatten sie sich auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt und ihn ausgequetscht und ihn angelogen. Wer nichts zugibt, dem muss man alles nachweisen, das hatte ihm der Gustl eingebläut, vor vielen Jahren schon, und das hatte er immer beherzigt, denn es stimmte, auf diese Weise konnte einen keiner aufs Kreuz legen. Junge Schnösel! Einer schrieb die ganze Zeit was auf seinen Block, und der andere stellte seine Fragen und bekam höflich seine Antworten.
    Und als sie ihn fragten, wieso der Gustl den Jungen gesehen hatte und er nicht, erwiderte er bloß, das könne er sich auch nicht erklären, er habe jedenfalls keinen gesehen. Und während sie so dahockten und versuchten, ihn zu linken, horchte Raphael nebenan an der Wand und machte keinen Mucks; brav war das, ganz professionell, das hatte er ihm auch gleich gesagt, nachdem die beiden Schnösel wieder gegangen waren und gemeint hatten, sie kämen bestimmt nochmal wieder. Sollen sie doch!
    »Du, was ist H-Milch?«, fragte Raphael und pulte das Ei ab, das Oberfellner für ihn hart gekocht hatte.
    »H-Milch, hm … das ist keine frische Milch, hier steht’s …« Er nahm die blaue Packung in die Hand. »Ultrahocherhitzt und homogenisiert …«
    »Heißt die H-Milch H-Milch, weil da Haare drin sind?« Die Schale klebte am Ei, und Raphael hatte keine Lust, sich abzumühen.
    »Wieso Haare?«
    »Da ist ein Haar drin!« Er hielt ihm das Glas hin: In der Milch schwamm ein schwarzes Haar. Oberfellner steckte seinen Zeigefinger hinein, angelte es heraus und streifte es an seiner Cordhose ab.
    »Alles weg.«
    »Die Milch schmeckt nicht. Und du hast vergessen, das Ei zu erschrecken, da schau!«

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