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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Freund sie vom Fahrrad gestoßen, ihr die Zunge rausgestreckt hatte und dann weggelaufen war; ihre Knie bluteten, und ihr grünes Kleidchen mit den bunten Blumen war nass von der Pfütze, in die sie gestürzt war.
    Vom Fenster aus sah Tabor Süden zu, wie das Mädchen weinte, doch der Junge blieb verschwunden.
    »Du musst sofort kommen, Volker ist stinksauer auf dich«, sagte Sonja am Telefon zu ihm. »Sie sind jetzt mit diesem Anz in seine Wohnung gefahren, Charly ist auch dabei. Ich rate dir, hier zu sein, wenn sie zurückkommen, sonst schmeißen sie dich noch raus, bevor du überhaupt wieder richtig angefangen hast.«
    »Was sagst du zu den Briefen?«
    »Ich weiß nicht, ob es richtig war, dass du sie gelesen hast.«
    »Sie sind an mich adressiert.«
    Er öffnete das Fenster, und das Weinen des Mädchens drang laut herein.
    »Was ist da bei dir los?«
    »Ich komm gleich, Sonja, ich schreib noch eine Nachricht für Martin.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du einen Schlüssel für seine Wohnung hast.«
    »Ich hab keinen.«
    Sonja schwieg, und er legte auf. Er stellte das Telefon aufs Fensterbrett und beugte sich hinaus. Als das Mädchen ihn bemerkte, drehte es sich zu ihm um, und er sah ihr glühendes, glänzendes Tränengesicht.
    »Ich sehe ein trauriges Kind, und es weint«, flüsterte er.
    Das Mädchen bekam einen Schluckauf.
    »Ich sehe ein trauriges Kind, und es weint«, sagte er, so leise wie zuvor, und dem Mädchen kullerten die Tränen über die Pausbacken und tropften in die Pfütze, in der sie stand. Langsam beruhigte sie sich und guckte fasziniert den Mann mit den langen Haaren und den leuchtenden Augen an, die so grün waren wie ihr Kleid.
    »Ich sehe ein trauriges Kind, das aufgehört hat zu weinen«, sagte er, und weil er so leise sprach, machte sie einen Schritt auf ihn zu.
    Und dann hörte sie auf zu weinen und vergaß ihren Schmerz und brachte keinen Ton mehr heraus vor Verwunderung.
     
    Sprachlos griff er nach seinem Hut, als wolle er sich daran festhalten. Dann ließ er sich auf den Sessel fallen und schaute das Paar blauer Socken an, das ihm der Polizist zeigte.
    »Die sind von einem Kind«, sagte Volker Thon.
    August Anz antwortete nicht.
    Die drei anderen Männer und die Frau durchstöberten die Wohnung, sahen sogar im Kühlschrank und unter dem Bett nach. Anz hörte sie herumhantieren.
    »Gehören diese Socken Raphael Vogel, Herr Anz?«
    »Ich denke, jetzt bekomme ich einen Durchsuchungsbefehl, und dann nehmen wir die Spurensicherung gleich mit«, sagte Karl Funkel, als er ins Zimmer kam.
    Er trug wie Andy Krust und Florian Nolte, die noch damit beschäftigt waren, das Schlafzimmer zu inspizieren, durchsichtige Gummihandschuhe. »Wissen Sie, was das bedeutet, Herr Anz? Das bedeutet, dass wir auf jeden Fall eine Spur vom kleinen Raphael finden, wenn er hier gewesen sein sollte. Und dann sind Sie ein Kindsentführer, Herr Anz.«
    Den richterlichen Beschluss brauchte Funkel nicht, um die Wohnung auf die übliche Weise zu durchsuchen – das taten sie bereits seit zehn Minuten, indem sie illegal Schubladen und Schränke aufmachten –, sondern als Legitimation für die Experten aus dem Labor, die mit ihrem Magnetpulver jeden noch so kleinen Fingerabdruck aufspürten. Außerdem konnte er, wenn er schon mit dem Richter sprach, gleich einen Haftbefehl gegen August Anz beantragen.
    »Ich bin kein Kindsentführer«, sagte Anz.
    »In der Küche stehen Cornflakes im Schrank und Nutella, beides frisch angebrochen«, sagte Andy Krust. Funkel schüttelte den Kopf, und Thon sah die beiden wütend an.
    »Lassen S’ bloß meine Sachen in Ruhe!«, sagte Anz. »Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl, ich hab Sie freiwillig reingelassen, lassen S’ bloß meine Sachen in Ruhe!«
    »Sie haben uns angelogen, Herr Anz«, sagte Funkel. Krusts Bemerkung würde ein Nachspiel haben, sie hatten den drei jungen Beamten ausdrücklich eingeschärft, behutsam vorzugehen und den Mund zu halten, die Fragen stellten ausschließlich Funkel und Thon. Wo steckte eigentlich Freya Epp? Er blickte kurz zum Flur, wo es dunkel war, und wandte sich wieder an August Anz, der jetzt den Hut abnahm und sich aufrichtete. »Wer einmal lügt, der hat bei uns schlechte Karten. Wo ist der Junge, Herr Anz?«
    »Weiß ich nicht«, sagte er.
    »Aber er war hier«, sagte Thon.
    »Ja«, sagte Anz und drehte den Hut auf seinem Schoß im Kreis. »Ja, der war da, ich hab ihn mitgenommen, weil er mir Leid getan hat. So ein armer Kerl.«
    »Warum haben

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