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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Sie uns das nicht gleich gesagt?«
    »Ich hab mich nicht getraut. Heutzutage, wo jeder, der nett zu einem fremden Kind ist, gleich zu einem Mörder und Vergewaltiger abgestempelt wird …«
    »Das ist Schwachsinn, Herr Anz!«, sagte Thon. »Wir wollen endlich wissen, wo der Junge jetzt ist! Was haben Sie mit ihm gemacht?«
    »Nichts, ich schwör’s! Ich hab ihn mitgenommen, weil er so allein war und weil er mich gefragt hat, ob ich was zu trinken für ihn hab. Und dann hab ich die Narbe an seinem Mund gesehen und ihn gefragt, was passiert ist, und er hat gesagt, seine Eltern würden ihn dauernd verprügeln und in den Keller sperren, und so was kann ich nicht leiden, so was kann ich auf den Tod nicht leiden.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Das weiß ich nicht.« Er atmete schwer und knöpfte seinen Mantel auf. »Ich hab ihn am Tierpark abgesetzt.« Er sah Funkel ruhig an und fummelte am Mantel herum. »Am Seiteneingang, bei dem Kiosk, da hab ich ihn hingebracht und bin wieder weggefahren. Mehr weiß ich nicht.«
    »Wann?«
    »Am Montag Nachmittag. Er hat gesagt, er ist da verabredet.«
    »Mit wem?«
    »Mit einem Freund, den Namen weiß ich nicht.«
    »Angenommen, das stimmt, was Sie uns da erzählen, im Moment habe ich noch große Zweifel daran, aber angenommen, es ist wahr, wieso hat Raphael seine Socken bei Ihnen ausgezogen?« Funkel gab Krust ein Zeichen, die Aussagen zu protokollieren. Der sechsundzwanzigjährige Kommissar beeilte sich, seinen Block herauszuziehen und mitzuschreiben, so schnell er konnte; er hatte kapiert, welchen Fauxpas er vorhin begangen hatte.
    »Er hatte zwei Paar an, und er hat gesagt, er hat Blasen an den Füßen, da hab ich ihm eine Salbe draufgeschmiert, und dann hat er wahrscheinlich das eine Paar vergessen wieder anzuziehen. Ich hab’s nicht gemerkt, wo genau haben Sie sie denn gefunden?«
    »Im Schlafzimmer«, sagte Thon.
    Freya, die schon eine Zeit lang an der Tür gestanden hatte, räusperte sich, und Funkel drehte sich zu ihr um. Sie gab ihm eine pinkfarbene Zahnbürste, die sie im Bad entdeckt hatte.
    »Ist von einem Kind«, sagte sie.
    Funkel hielt Anz die Zahnbürste vor die Nase. »Die ist wohl kaum von Ihnen. Wem gehört die?«
    »Die gehört niemand«, sagte Anz und beugte sich vor und machte ein trauriges Gesicht. »Ich hab sie für Raphael gekauft …«
    »Obwohl er nur so kurz bei Ihnen war?«, fragte Thon scharf.
    »Ich hab sie ihm unterwegs gekauft, er hat ja in der Früh keine Zeit gehabt, sich die Zähne ordentlich zu putzen, das ist aber wichtig für ein Kind. Außerdem hab ich gedacht, vielleicht kommt er ja wieder, und dann hab ich gleich eine für ihn.«
    »Was? Sie haben gedacht, er kommt zu Ihnen zurück?«, blaffte Thon. »Haben Sie ihn aufgefordert, er soll zu Ihnen zurückkommen oder was? Jetzt sagen Sie uns endlich die Wahrheit, Herr Anz!«
    Anz stand auf, warf Mantel und Hut auf die Couch und öffnete die oberen zwei Hemdknöpfe. »Ja, genau, das hab ich zu ihm gesagt. Weil er nämlich ein armer Kerl ist, der Raphael, seine Eltern behandeln ihn wie ein Stück Dreck, wie Abfall, und ich kann gut verstehen, dass er weggelaufen ist, ich kann das ganz gut verstehen, Herr Kommissar, und ich find das toll, dass er das gemacht hat, das find ich spitze, und das ist nicht verboten. Sie haben ja überhaupt keine Ahnung. Haben Sie überhaupt Kinder?«
    Funkel roch an der Zahnbürste und gab sie Thon. Der betrachtete sie und reichte sie an Freya weiter, die sie in einen kleinen Plastikbeutel steckte.
    »War Ihr Freund Oberfellner dabei, als Sie den Jungen getroffen haben?«, fragte Thon, der in seinem teuren Trenchcoat und mit den nach hinten gekämmten Haaren eher einem Dressman glich als einem Kriminalhauptkommissar.
    »Der doch nicht, der hätt doch sofort Schiss gekriegt! Ich hab dem Jungen gesagt, er soll auf mich warten, ich hol ihn dann mit meinem Auto ab. Wir haben schon um zwei Schluss gehabt an dem Tag, das war günstig. Der Oberfellner! Wenn der das mitgekriegt hätt, dann wär er sofort zur Polizei gelaufen, der Feigling.«
    »Das wäre wenigstens mal eine vernünftige Tat gewesen«, sagte Funkel.
    »Ist das vernünftig, wenn man so einen Jungen zu seinen prügelnden Eltern zurückbringt, die ihn dann erst recht vermöbeln? Ich hoffe, dass er sich Zeit damit lässt, wieder nach Hause zu gehen, viel Zeit. Das hoff ich, und jetzt will ich mich ausruhen.«
    »Sie ruhen sich überhaupt nicht aus, Sie kommen mit uns, und dann machen wir ein Protokoll, und Sie

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