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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Er zeigte ihm das halb geschälte Ei. »Geht nicht runter, meine Mama kann das besser.«
    »Ich hab’s aber abgeschreckt, du hast doch selber zugeschaut.«
    »Kann sein. Jetzt hab ich keinen Hunger mehr. Aber das war schlau vom Gustl, dass er mich im Keller versteckt hat. Die Polizei wird schön blöd geguckt haben.«
    »Die haben doch gar nicht gewusst, dass du bei ihm gewesen bist.«
    »Wieso sind die dann zu ihm hingekommen?«
    »Wahrscheinlich hat die Nachbarin die Polizei angerufen, die macht das gern.«
    »Warum denn?«
    »Weil sie den Gustl nicht mag.«
    »Der ist doch klasse.« Er glitt vom Stuhl und ging zu Oberfellner und schaute zu ihm hinauf. »Du bist auch klasse. Das war klasse, wie du mit deinem Auto vor das Garagentor gefahren bist und mich rausgeholt hast, ohne dass die Polizisten was gemerkt haben. Außerdem stinkst du gar nicht mehr aus dem Mund.«
    Das war Oberfellner peinlich, und er hielt sich die Hand vor den Mund und hauchte sie an. »Danke«, sagte er.
    »Bitte«, sagte Raphael fröhlich. »Das war echt klasse mit dem Auto.«
    In dem Wohnblock an der Schönstraße befanden sich die Zufahrten zu den Tiefgaragen nicht auf derselben Seite wie die Hauseingänge, und wer sich nicht auskannte, wäre nie auf die Idee gekommen, dass beides zu denselben Wohnungen gehörte, die Entfernungen waren zu groß. Nachdem die Kommissare Rossbaum und Gobert mit Anz losgefahren waren, ging Raphael mit dem Schlüssel, den ihm Anz gegeben hatte, in die Wohnung zurück. Er rief Oberfellner an, der ihn dann abholte, unbemerkt von den beiden Zivilbeamten, die den Hauseingang von einem Auto aus observierten; nicht einmal Trude Mehlhaus, die Nachbarin aus dem Parterre, hatte etwas mitgekriegt. Und bis die Polizei auf Frank Oberfellners Namen stieß, war er längst wieder bei sich zu Hause und hatte dem Jungen ein ordentliches Frühstück zubereitet.
    Zuerst war er wütend gewesen, weil er nicht verstand, wieso Gustl so ein Risiko einging und was er überhaupt mit diesem Jungen vorhatte und weil sein Freund wieder einmal alles allein bestimmte. Aber nun, da die Sache so reibungslos lief, packte ihn der Ehrgeiz, und er empfand es als Verpflichtung schon wegen Gustl, den Bullen klarzumachen, wer hier die Kommandos gab. Für die Polizei hatten beide noch nie was übrig gehabt, das war eine ihrer großen Gemeinsamkeiten.
    »Hast du gehört, sie haben versucht, mich gegen meinen Freund auszuspielen«, sagte er zu Raphael und tätschelte unbeholfen dessen Schulter. »Nicht mit mir!«
    »Kommt der Gustl bald wieder?«
    »Da kannst du deinen Rucksack drauf wetten.« Er trank einen Schluck kalten Kaffee und suchte nach Worten. »Hör mal, Raphael, ich find es gut, dass du hier bist, weil hier tut dir niemand was. Aber irgendwann musst du wieder zurück nach Hause …«
    »Nein!«, sagte Raphael laut. »Nein! Ich geh nie wieder zu meiner Mama, nie, nie wieder! Lieber bring ich mich um!«
    Lautlos, denn er hatte nur Socken an, rannte er aus der Küche und warf sich im Schlafzimmer aufs Bett und versteckte sich unter der Steppdecke.
    Oberfellner setzte sich neben ihn und tastete nach seinem Kopf. Doch Raphael kauerte sich zusammen und schluchzte. »Raphael, du darfst nie wieder sagen, dass du dich umbringst. Bitte, das musst du versprechen …«
    »Nein!«, kam es von tief unten aus der Decke.
    »Du musst es versprechen, Raphael, das ist ganz wichtig, dass du mir das versprichst, hörst du mir zu, Raphael …«
    Schweigen. Dann: »Warum?«
    »Warum? Weil ich sonst sterbe vor Angst, dass du dir was antust, und dann sind wir beide tot, und das wär doch schlimm. Wir vertragen uns doch so gut, oder nicht? Du und ich. Wir sind der Polizei entwischt, wir beide, wir sind ein eingespieltes Team, oder vielleicht nicht?«
    »Ja.«
    »Genau. Versprichst du’s mir jetzt?«
    Die Decke bewegte sich, und ein brauner zerwühlter Schopf tauchte auf.
    »Ich versprech’s dir«, sagte Raphael.
    »Weißt du«, sagte Oberfellner und streichelte vorsichtig Raphaels Hinterkopf, »meine Schwester ist von einer Brücke in den Fluss gesprungen, weil sie nicht mehr leben wollte. Das war das Schlimmste, was ich je erlebt hab, und so was will ich nie wieder erleben. Das war so furchtbar, so furchtbar war das, das kann ich gar nicht sagen.« Seine Hand zitterte und war auf einmal kalt, und er schniefte.
    Raphael sah ihn erstaunt an: Er hatte noch nie einen Mann weinen sehen.
     
    Draußen im Hof heulte sich ein kleines Mädchen die Augen wund, weil ihr

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