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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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enger an sie geschmiegt. Ich sehe noch, wie ihr manchmal zusammen spazieren gegangen seid. Kaum hattet ihr das Haus verlassen, hast Du nach ihrer Hand gegriffen und sie dann nicht mehr los gelassen. Du warst so ängstlich und schreckhaft, dass wir alle Angst hatten, Dir könne vor lauter Empfindlichkeit wirklich einmal etwas passieren. Es hat Dir aber niemand übel genommen, dass Du so seltsam warst, denn alle hier im Haus wussten ja, was mit Deiner Mutter während des Krieges geschehen war …
     
    Und was war mit meiner Mutter während des Krieges geschehen? Ich fragte die Haushälterin nicht, sondern sprach über diese Zeit nur mit meinem Onkel. Er hatte sich schon gedacht, dass ich von meinen Eltern nichts über diese Jahre erfahren hatte, und er antwortete auf meine vielen Fragen, indem er seine Fotoalben als Erinnerungsstütze hervorholte und erzählte. Zwei ganze Nachmittage verbrachten wir zusammen in seinem Arbeitszimmer, es war sehr still, ab und zu hörte ich die Glocken der nahen Kirche schlagen. Während wir in den Alben blätterten, saßen wir dicht nebeneinander, der Onkel sprach, ich fragte nach, manchmal hatte ich das Gefühl, eine gespenstische Geisterschau zu erleben, ein Blick auf ein Leben, das ich nur hilflos betrachten, aber kaum begreifen konnte.
     
    Wie seltsam war es zum Beispiel, die eigenen Eltern in noch jugendlichem Alter und damit als Liebespaar zu sehen! Da standen sie zusammen am Rand eines Feldes und umarmten einander, als hätten sie das Glück ihres Lebens gefunden! Meine Mutter war sichtlich hingerissen von der Eleganz des großen Mannes, der neben ihr stand, und mein Vater stand so stolz neben ihr, als hätte er eine Trophäe erobert. Sie plauderten, ja, sie hatten anscheinend beide während der Aufnahme der Fotografie miteinander gesprochen, so dass sie noch etwas Jugendliches, ja sogar Kindlich-Unverkrampftes hatten. Betrachtete man solche Fotografien, hielt man die beiden für ein lebenslustiges, humorvolles, ja sogar etwas draufgängerisches Paar, das sich gerade aufmachte, die Welt zu erobern.
     
    Ein paar Albumseiten später aber war dann schon alles ganz anders. Meine Eltern hatten geheiratet und waren kurz nach ihrer Heirat nach Berlin gezogen, weil mein Vater dort seine erste Stelle erhalten hatte. Aus einem kleinen westerwäldischen Dorf direkt nach Berlin! Vom ausgebleichten Grasrand eines Feldes direkt auf Berliner S-Bahn-Stationen! Auf einer solchen Station standen sie dann nebeneinander, Botanischer Garten war der gut erkennbare Name der Haltestelle, dort stiegen sie meist aus und ein, weil sie in der Nähe dieser Station wohnten.
    Jetzt wirkten sie angestrengt, erschöpft, sehr ernst und ganz wie ein Paar, das den Kampf mit der Stadt aufgenommen hatte. Beinahe alle Berlin-Bilder zeigten sie dann auch bei bestimmten Tätigkeiten: Beim Einrichten der Wohnung, bei Einkäufen und Erledigungen, bei Treffen mit den Kollegen meines Vaters, selbst auf Ausflügen machten sie den Eindruck, als wären sie nicht aus reinem Vergnügen unterwegs, sondern um einer Pflicht zu genügen.
     
    In Berlin wurde dann mein erster Bruder geboren, der aber bereits kurz nach der Geburt während eines Bombenangriffs ums Leben kam. Fotos von diesem früh gestorbenen Bruder gab es nicht, die einzigen Bilder, die mit diesen Ereignissen in Zusammenhang standen, zeigten meine Mutter vor einem Lastwagen, auf dem sich ein Teil der Möbel und der Wohnungseinrichtung befand. Sie schaute den unbekannten Fotografen nicht an, sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, als gälte ihre ganze Aufmerksamkeit nicht dem Foto, das gerade von ihr gemacht wurde, sondern einer anderen, viel wichtigeren Sache.
    Diese wichtigere Sache könnte die Fahrt zurück in die Heimat gewesen sein, denn unmittelbar nach dieser Aufnahme muss sie zusammen mit dem Fahrer dieses Lasters die Heimreise angetreten haben. Damals war mein Vater längst Soldat und konnte ihr bei all diesen Aktionen nicht helfen. So brachte sie das Kostbarste an Hab und Gut allein in die ländliche Heimat zurück und pendelte nur noch ab und zu nach Berlin, um die fast leere Wohnung weiter notdürftig zu bewirtschaften. Sie hatte sich so auf Berlin gefreut, sagte mein Onkel, aber nach dem Tod des Kindes hielt sie es in der Stadt nicht mehr aus. Vorher war sie viel in den Museen und Bibliotheken unterwegs gewesen, sie hatte sich um eine Anstellung bei einer Bibliothek beworben und nach einem Bewerbungsgespräch auch fest damit gerechnet, genommen zu werden.

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