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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Danach aber war von so etwas nie mehr die Rede, sie ging kaum noch aus und ernährte sich fast nicht mehr, im Grunde hatte sie nur noch die eine Sehnsucht, endlich wieder in die Heimat zurückzukehren. Wie konnten wir bloß von dort weggehen!, sagte sie immer wieder, wie konnten wir bloß!
     
    In der Heimat war sie dann kurze Zeit später wieder schwanger geworden, und von da an war es überhaupt nicht mehr möglich gewesen, sie auch nur zu einem Aufenthalt von wenigen Tagen in Berlin zu bewegen. Die Fotografien zeigten sie daher nun wieder ausschließlich auf dem Land, zusammen mit ihren Eltern, in deren Haus sie lebte. Als der Junge zur Welt gekommen war, wurde er ihr ganzes Glück , erzählte mein Onkel, ich habe selten ein so strahlendes Paar gesehen. Wahrhaftig, ja, von den ersten Fotos an, die von ihm gemacht wurden, lachte mein zweiter Bruder. Er hatte hellblonde Haare und einen großen Kopf und wirkte so beglückt, als wollte er mit aller Macht davon ablenken, dass er mitten im Krieg zur Welt gekommen war.
    Ich schaute mir die Fotos, die von ihm gemacht worden waren, immer wieder an, die Ähnlichkeit mit mir war doch zu verblüffend. Seine blonden Haare waren an genau derselben Stelle des Kopfes wie bei mir gescheitelt, und die Stirn war beinahe genau so auffällig breit wie die meine. So hatte sein Anblick für mich etwas Irritierendes, als schaute ich in den Spiegel oder als betrachtete ich einen fernen Zwilling, der meine spätere Existenz vorweggenommen hatte. Ich fragte mich, ob er auch ganz ähnlich empfunden und gedacht hatte wie ich, ja ich vertiefte mich immer wieder in die scheinbar unbedeutendsten Details seiner Erscheinung, als könnte ich ihnen etwas entnehmen.
     
    Dass er nur wenige Tage vor Kriegsende beim Einmarsch der Amerikaner auf einem abgelegenen Hofgut in der Nähe des elterlichen Dorfes dann ebenfalls ums Leben kam, vernichtete den Lebenswillen meiner Mutter beinahe ganz. Sie soll in der Küche des Guts gesessen und Deinem Bruder ein Honigbrot geschmiert haben, als die Granaten in den Raum einschlugen, erzählte mein Onkel. Die Amerikaner hatten das Gut längst besetzt, aber im Tal gegenüber lag noch versprengte deutsche Artillerie, die einfach drauflos feuerte und dabei das Leben der eigenen Landsleute aufs Spiel setzte. Eine dieser Granaten ist Deinem Bruder in den Hinterkopf geschlagen, er war sofort tot.
     
    Mein Onkel sagte eine Weile nichts mehr, schließlich war es auch für ihn nicht leicht, mir das alles zu erzählen. Auf einigen Fotografien sah man das abgelegene Hofgut, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Neben dem Wohnhaus stand eine mächtige, verwitterte Scheune, im Hintergrund gab es Wiesen und windschiefe Zäune, in der Ferne verlief eine dünne, sanft auf und ab schwingende Horizontlinie, man konnte sich kaum einen einsameren Ort vorstellen. Wieso war es aber ausgerechnet dieser Ort gewesen, an dem sich die letzten Kampfhandlungen in der Gegend ereignet hatten? Und warum hatten diese letzten Kampfhandlungen ausgerechnet meinem kleinen, damals etwas über drei Jahre alten Bruder das Leben gekostet?
     
    Nach dem Tod Deines zweiten Bruders hat Deine Mutter noch gesprochen, jedoch nicht mehr viel, nur noch das Nötigste. Sie nahm aber am Leben um sie herum immer weniger teil, denn sie war von der Trauer derart überwältigt, dass sie nichts mehr interessierte. Ich habe ihr damals zu helfen versucht, sagte mein Onkel, ich habe viele Gespräche mit ihr geführt, aber wir drehten uns bei all diesen Gesprächen im Kreis. Deine Mutter konnte nicht verstehen, warum sie zum zweiten Mal ein so hartes Schicksal getroffen hatte, sie gab sich sogar selbst die Schuld, als wäre ihre besondere Vorsicht der Grund für den Tod Deines Bruders gewesen. Diese Vorsicht hatte sie das einsame Hofgut aufsuchen lassen, dort hatte sie sich sicher geglaubt, gerade dieser entlegene Ort hatte sich dann aber als der unsicherste der Gegend erwiesen.
     
    Wenige Monate nach Kriegsende hatten meine Mutter und mein schwerverletzt aus dem Krieg heimgekehrter Vater dann jene Wohnung in Köln bezogen, in der ich aufgewachsen war. Auch von der Inbesitznahme dieser Wohnung gab es keine Fotos, wohl aber einige wenige Aufnahmen von meinem Vater, der mit Hut und im Mantel vor der Haustür stand, als hätte er dort Posten bezogen und müsste jetzt tagelang unbeweglich an genau dieser Stelle stehen und ausharren. Wir hatten uns von dem Umzug nach Köln viel versprochen, sagte mein Onkel, doch dann wurde

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