Die Erfindung des Lebens: Roman
Klavierspiel und die Zukunft ging, kam mir dann plötzlich eine Idee: Warum fragte ich nicht einfach den Onkel nach der Vergangenheit meiner Eltern? Warum kam ich nicht beiläufig darauf zu sprechen und nutzte die Gelegenheit, ihn alles, was ich wissen wollte, zu fragen?
Ich war nahe daran, das zu tun, als mir ein noch besserer Gedanke kam. Ich fragte den Onkel, ob er mir erlaube, in seiner Kirche einmal die Orgel zu spielen, und dann erzählte ich gleich anschließend davon, dass ich in der Klosterkirche immer wieder Orgel gespielt hätte, mir das aber jetzt untersagt worden sei. Zum Schluss sprach ich noch von der geheimen Sehnsucht, die mich ab und zu überfalle, wenn ich in eine Kirche käme, in der sich eine schöne Orgel befände.
Mein Onkel reagierte genauso, wie ich erwartet hatte. Er fragte, wann ich mir denn etwas Zeit für das Orgelspiel nehmen könnte, und lud mich, nachdem ich ein paar mögliche Zeiträume genannt hatte, sofort ein, ihn zu besuchen. Ein paar Tage solltest Du aber schon bleiben , verlangte er, und ich sagte ihm auch gleich zu, dass ich auf jeden Fall so lange bleiben würde. Dann können wir einmal in Ruhe miteinander reden, sagte der Onkel, während ich auch schon nervös wurde, weil sich nun derart unerwartet die Chance auftat, etwas über bestimmte Details der Vergangenheit zu erfahren. Einen Moment fragte ich mich, ob die Gespräche mit dem Onkel mir nicht schaden würden, doch dann zwang ich mich, nicht an so etwas zu denken, sondern mich im Gegenteil darauf zu freuen, dass der Onkel sich Zeit für mich nehmen wollte.
Von außen betrachtet, waren die Essener Tage , wie ich sie später dann immer für mich genannt habe, von großer Schönheit. Morgens frühstückte ich mit dem Onkel im großen Pfarrgarten hinter dem Pfarrhaus, um dann am Vormittag einige Zeit an der Orgel zu verbringen. Mittags fuhren wir oft mit einem Wagen ins Grüne, gingen spazieren und aßen irgendwo eine Kleinigkeit, um am Nachmittag übers Land zu gondeln, von Ortschaft zu Ortschaft.
Ich spürte, dass mein Onkel bemüht war, meinen Besuch wie einen Ferienaufenthalt zu gestalten, und als ich mich mit seiner alten Haushälterin unterhielt, erfuhr ich, dass er ihr genau das gesagt hatte: Johannes macht bei uns Ferien. Ferien zu machen, bedeutete, dass ich zwar Orgel spielen, nicht aber lange auf der Orgel und dem Klavier üben durfte, und Ferien zu machen, bedeutete weiterhin, dass ich mich um nichts zu kümmern brauchte, sondern dass mir viel vom üblichen Alltag abgenommen wurde.
So hatte ich wahrhaftig einmal etwas Zeit, von der ich einen Teil in der geräumigen Küche verbrachte, wo ich mich gern mit der Haushälterin unterhielt, die aus demselben Ort kam wie meine Eltern und in der Jugend sogar mit meiner Mutter befreundet gewesen war. Deine Mutter war eine unglaublich hübsche Person , sagte sie und erzählte dann von ihren Erinnerungen: Katharina, Blumen pflückend, im Garten des großelterlichen Hauses. Katharina in einem langen weißen Kleid, nach dem Kirchgang, auf der Dorfstraße. Katharina auf dem Schützenplatz, in einer Runde mit mehreren Freundinnen, ausgelassen und fröhlich. Wir anderen Mädchen haben sie immer um ihre schöne Kleidung beneidet, erzählte die Haushälterin weiter, sie hatte einen unfehlbar guten Geschmack. Die Kleider entwarf und schneiderte sie sich selber, wir wussten nie, woher sie die Anregungen dafür bekam, das blieb ihr Geheimnis.
Ganz nebenbei erfuhr ich, dass ich selbst in meinen ersten Kinderjahren bereits mehrere Male im Pfarrhaus gewesen war. Ich hatte daran keine Erinnerung mehr, bekam jetzt aber zu hören, dass ich meine Mutter für einige Tage begleitet und mit ihr oben, in dem großen, hohen Schlafzimmer unter dem Dach, übernachtet hatte, in dem ich auch diesmal schlief. Du bist keinen Schritt von Deiner Mutter gewichen , sagte die Haushälterin und lachte, als erzählte sie eine lustige Geschichte, Du hast das Zimmer verlassen, wenn sie das Zimmer verlassen hat, Du bist ihr sogar bis zur Toilette gefolgt und hast dann vor der Toilettentür auf sie gewartet. Niemand durfte Dich berühren oder anfassen, geschah so etwas zufällig aber doch einmal, hast Du geschrien, als würdest Du richtige Schmerzen ausstehen. Bei Tisch hast Du so dicht neben der Mutter gesessen, dass Du Dich mit dem Oberarm an sie anlehnen konntest, und wenn Dich jemand aufgefordert hat, ihr doch ein wenig mehr Platz beim Essen zu lassen, hast Du ihn böse angeschaut und Dich noch
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