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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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nicht sprechen konnte, sondern Stunden wie ein Blockierter nur mit den Filmbildern im Kopf so lange durch die Stadt lief, bis die Blockade sich gelöst hatte. An anderen Tagen genügte schon ein kurzer Stimmungsabsturz nach Verlassen des Gymnasiums, um eine stundenlang anhaltende Sprachlosigkeit entstehen zu lassen. In solchen Fällen konnte ich nicht nur mit niemandem reden, sondern trat sogar die Flucht an, um von niemandem angesprochen zu werden. Wie gehetzt suchte ich Orte auf, an denen ich kaum einem Menschen begegnete, und wenn ich endlich einen einsamen Ort gefunden hatte, machte mir die Einsamkeit nach einer Weile derartige Angst, dass ich mir nicht anders zu helfen wusste, als wieder zurückzukehren an die vertrauten Orte und Räume meiner Kindheit rund um den ovalen Kölner Platz.
    Johannes, da bist Du ja wieder! …- wenn ich diesen Zuruf zu hören bekam, löste sich alles in mir, ich erwachte aus meinem Trance-Zustand, schüttelte die Beklemmung ab und wandte mich meinem Gegenüber zu: Dort, kaum einen Meter entfernt, stand ein Mensch, der mich kannte, von meinen Ticks wusste und mir keine Angst machte!
     
    Natürlich erzählte ich meinen Eltern von alledem nichts, denn ich wusste ja nur zu genau, dass in unserem Haus ein absolutes Schweigegebot galt. Meinen Vater nach der Vergangenheit zu befragen, hätte nichts als einen starken Unwillen hervorgerufen, und dasselbe mit meiner Mutter zu tun, hätte schon beinahe als ein brutaler Akt, ja sogar als ein Anschlag auf ihre Gesundheit gegolten.
    In mir selbst aber wurde das Verlangen, diese Vergangenheit genauer zu kennen, immer stärker. Was war vor meiner Geburt geschehen? Wie waren meine vier Brüder ums Leben gekommen? Und warum hatte ich so viele Jahre nicht sprechen können wie andere Kinder? Diese Fragen rumorten in mir, sie gingen mir beinahe täglich durch den Kopf, vor allem aber glaubte ich ganz naiv, dass ich erst nach ihrer Beantwortung und Klärung auf der sicheren Seite des Lebens stünde.
    Vorerst aber fühlte ich mich ganz und gar noch nicht auf dieser Seite, denn vorerst empfand ich mich trotz aller Erfolge und trotz der unübersehbaren Fortschritte in meiner Entwicklung oft noch immer wie ein Verfolgter, der sich täglich in Acht nehmen musste, nicht von der Vergangenheit eingeholt und mundtot gemacht zu werden.

34
     
    SEIT DEM Abend, den wir gemeinsam im Il Cantinone verbracht haben, habe ich Antonia nur zwei- oder dreimal kurz im Treppenhaus gesehen. Sie war eilig, sie hatte angeblich etwas Dringendes zu erledigen, oder sie erklärte, dass sie rasch in die Wohnung müsse, weil sie einen wichtigen Anruf erwarte.
    Jedes Mal hatte ich dabei aber den Eindruck, dass sie eine längere Unterhaltung vermeiden wollte. Vielleicht fürchtete sie, es könne zu einer weiteren Verabredung und damit einer noch stärkeren Annäherung zwischen uns kommen, vielleicht brachte sie ihre frühere Lebenssituation aber auch noch nicht mit gewissen Veränderungen in unserer sich allmählich entwickelnden Freundschaft zusammen und brauchte einfach Zeit, sich auf diese Veränderungen einzustellen.
    Ich dagegen erlebte unsere Annäherung ganz anders. Das lange nächtliche Gespräch im Il Cantinone hatte ich als eine Erlösung von der Zeit meines einsamen Umhervagabundierens empfunden, ganz zufällig war ich hier in Rom auf jemanden getroffen, mit dem ich mich nicht nur unterhalten, sondern dem ich sogar etwas anvertrauen konnte. Ja, wahrhaftig, ich hatte begonnen, Antonia zu vertrauen, langsam wuchs sie in die Rolle einer wirklichen Zuhörerin und Freundin hinein, weshalb ich von ihr nun erwartete, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg weitermachten.
     
    Genau solche Erwartungen haben in meinem Leben jedoch immer wieder zu großen Enttäuschungen geführt. Um das zu begreifen, muss man verstehen, dass fast alle Menschen, denen ich in meinem Leben begegnete und mit denen ich dann auch zu tun hatte, mir derart fremd waren, dass ich zwar mit ihnen auskommen und sogar bestimmte Zeiten in der Woche mit ihnen zusammen sein konnte, darüber hinaus aber keine engeren Verbindungen mit ihnen zustandebrachte.
    In meiner gesamten Schulzeit kam es daher zu keiner einzigen wirklichen Freundschaft, obwohl ich mich gerade nach einem richtigen Freund sehr gesehnt habe. Stattdessen war ich höchstens ab und zu mit kleinen Gruppen von Mitschülern unterwegs, lange hielt ich es aber in diesen Gruppen nicht aus, ich musste davon, ich wollte weg und wieder allein sein, und ich hatte

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