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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Menschen. Mit der Zeit nahmst Du ihre Verhaltensweisen an, Du setztest Dich neben sie, wenn sie ein Buch hervornahm, Du trankst etwas, wenn auch sie etwas trank. Es war, als hättest Du ihr beistehen wollen, indem Du ihr zeigtest, dass Du immer für sie da warst und ganz und gar zu ihr gehörtest. Deshalb durfte Dich ja auch niemand anrühren, und deshalb gingst Du nur mit ihr aus! Erst wurdest Du immer verschlossener, dann aber sagtest Du keinen Ton mehr. Du hattest Dich ihrem Leben und vor allem ihren Leiden so angepasst, dass Du plötzlich selbst wie ein Bild des Leidens erschienst …
     
    So war das also gewesen! Plötzlich erkannte ich die Zusammenhänge und begriff deutlicher, warum ich manchmal so seltsam gehandelt hatte und manchmal noch immer so handelte. Mein Leben war eine mühevolle, schrittweise Befreiung von all diesen schlimmen Vergangenheiten gewesen, die ich erst allmählich hatte abstreifen und zumindest in ihren gefährlichsten Momenten hatte zurücklassen können.
    Dann und wann tauchten diese nächtlichen, dunklen Momente aber wieder auf und machten mir zu schaffen, denn im Grunde besaß ich nur wenige schwache Hilfsmittel, um ihnen zu begegnen. Das stärkste dieser Hilfsmittel war das Klavierspiel, ein anderes, jedoch weitaus schwächeres, waren die Aufzeichnungen und Notizen, mit deren Hilfe ich das Leben um mich herum festhielt.
    An diese beiden Hilfsmittel hatte ich mich mit den Jahren derart geklammert, dass ich ohne sie kaum noch existieren konnte. Ließ ich in einer dieser beiden Vergewisserungs-Arbeiten auch nur ein wenig nach, spürte ich eine starke Irritation und wurde schon bald sehr unruhig. Dann stieg die alte Angst in mir hoch, dann begann ich, mich von den anderen Menschen zu entfernen und schließlich zu trennen, als müsste ich ihnen den Anblick einer bedauernswert hilflosen Existenz ersparen.
     
    Ich sagte bereits, dass die Essener Tage von außen betrachtet sehr schöne Tage waren, unter dieser ruhigen, schönen Oberfläche aber wuchs mit den Tagen eine innere Unruhe, die mich dann lange Zeit keine Nacht mehr schlafen ließ. Waren die schlimmen Zeiten und Erfahrungen wirklich ganz vorüber? Oder musste ich Angst haben, sie in anderen Facetten und Konstellationen wieder zu erleben?
    Niemand konnte mir helfen, solche Fragen zu beantworten, ich musste mit ihnen allein zurechtkommen. Vor allem aber musste ich mir Gedanken machen, wie es mit meinem Leben weitergehen sollte. Sollte ich mich – wie seit langen Zeiten geplant – um einen Studienplatz an einer Musikhochschule bewerben? Und sollte ich wirklich alles riskieren und nur auf eine pianistische Laufbahn setzen?
     
    Es war in den Tagen nach meiner Rückkehr aus Essen, als sich am Horizont eine vage Idee abzuzeichnen begann, die mich dann von Tag zu Tag mehr beschäftigte. Sie war unter anderem dadurch entstanden, dass mein Onkel nicht nur vom Leben meiner Eltern, sondern schließlich auch von seinem eigenen Leben erzählt hatte. Dabei hatte er leidenschaftlich und begeistert von Rom und jenen beiden Jahren gesprochen, in denen er als junger Theologe dort studiert hatte.
    Auch von diesen Jahren hatte er mir Fotografien gezeigt, und ich hatte einen schlanken, schwarz gekleideten jungen Mann gesehen, der sich von seinem kleinen ländlichen Heimatort abgesetzt hatte, um eine andere Kultur kennenzulernen und das Leben zu Hause zumindest für einige Zeit ganz hinter sich zu lassen.

35
     
    ROM – ich kann gar nicht sagen, wie ich mich auf den Augenblick gefreut habe, von meinen Jugendjahren in dieser Stadt erzählen zu können! Innerlich spürte ich beim Nachdenken über mein Leben immer, dass alles auf diese Jahre in Rom zulief und dass sie die wichtigste Zeit meines Lebens waren. Vor allem um dieser Zeit wieder nahe zu sein, bin ich ja, ehrlich gesagt, auch hierher aufgebrochen und schreibe jetzt ausgerechnet hier Tag für Tag an meiner Erzählung.
    Während dieser Arbeit habe ich mich jedoch an den Vorsatz gehalten, all jene Orte, an denen ich mich früher einmal herumgetrieben oder sogar gelebt habe, nicht aufzusuchen. Ich habe vielmehr möglichst einen weiten Bogen um sie gemacht, als wären es brandgefährliche oder riskante Orte, die meine gesamten Phantasien sofort besetzen oder durcheinanderbringen könnten.
    So habe ich bis jetzt nur manchmal an sie gedacht, bis jetzt, wo ich mit der Schilderung meiner Kindheit und Jugend in Deutschland an ein vorläufiges Ende gekommen bin. Ich wollte all die in Deutschland

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