Die Erfindung des Lebens: Roman
alles noch schlimmer. Deine Mutter bewegte sich nicht mehr aus dem Haus, sie wurde stumm, und wir alle wussten nicht, was dagegen zu tun war. Auf keine mögliche Ablenkung ließ sie sich ein, sie hörte keine Musik, sie las nicht, ihre einzigen Wege führten sie in die Kirche, wo sie sich dann lange Zeit in der Nähe des Marienbildes aufhielt. Später hat Dein Vater einmal gesagt, der Anblick dieses Bildes habe ihr die Kraft gegeben, weiter am Leben zu bleiben, wir können heute nicht wissen, ob das so war, was wir aber wissen, ist, dass diese stumm und leblos gewordene Frau dann noch zweimal versucht hat, ein Kind zu bekommen. Jedes dieser beiden Kinder aber wurde tot geboren, und das war so furchtbar, dass ich selbst kurz davor war, den Beruf des Pfarrers aufzugeben. Ja, Johannes, so war es wirklich, ich habe mit Gott gehadert und mich am hellen Tag allein und verzweifelt in meinen dunklen Beichtstuhl gesetzt, um Gott anzuklagen, dass er etwas derart Furchtbares zuließ.
Ich habe bisher noch wenig von Deinem Vater gesprochen, sagte mein Onkel später, ich muss jetzt aber unbedingt auf ihn zu sprechen kommen. Ohne ihn hätte Deine Mutter nicht weitergelebt, ohne ihn nicht! Und damit Du genau verstehst, was für ein Mann er damals war, erzähle ich Dir von der Beerdigung Deines vierten Bruders, an der Deine Mutter natürlich nicht mehr teilnehmen konnte. Niemand von uns Verwandten konnte eigentlich noch an einer solchen Beerdigung teilnehmen, selbst mir war es in diesem Fall nicht mehr möglich, meine priesterlichen Pflichten zu erfüllen. Deshalb hatten wir den Pfarrer unseres Dorfes gebeten, diese schwere Aufgabe zu übernehmen, der Mann gab sich die größte Mühe, stoisch zu bleiben, aber auch ihm kamen am offenen Grab vor der versammelten Trauergemeinde dann die Tränen, so dass er nicht weitersprechen konnte. Stell es Dir vor, stell Dir vor, dass die Zeremonie stockte und keiner noch ein Wort sprechen konnte! Es war ein furchtbarer, allen Schmerz übersteigender Moment, aus dem niemand noch einen Ausweg wusste. In diesem Moment aber trat Dein Vater ans Grab, schnäuzte sich kurz, atmete zwei-, dreimal tief durch und betete dann mit fester Stimme: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, auf grünen Auen lässt er mich lagern; an Wasser mit Ruheplätzen führt er mich, Labsal spendet er mir. Er leitet mich auf rechter Bahn um seines Namens willen. Auch wenn ich wandern muss in finsterer Schlucht, ich fürchte doch kein Unheil, denn Du bist bei mir, Dein Hirtenstab und Stock, sie sind mein Trost …«
Es war ein schlimmer Moment, als mein Onkel mir von diesem Gebet meines Vaters erzählte, denn plötzlich sah ich ihn vor mir, wie er sich während meiner ganzen Kindheit um meine Mutter und mich gekümmert hatte, wie er später mit mir aufs Land gezogen war, wie wir zusammen in der freien Natur unterwegs gewesen waren, und wie er in jedem Moment darauf vertraut und gehofft hatte, dass ich irgendwann wieder sprechen würde …
Was hatten meine Eltern bloß für ein Leben geführt! Konnte man sich überhaupt noch schrecklichere Jahre denken als die, die sie vor meiner Geburt zusammen erlebt hatten? Und wie war es meinem Vater nach dem Tod von vier Söhnen noch möglich gewesen, derartige Gebete zu sprechen? Ich unterhielt mich mit meinem Onkel darüber, und er antwortete, dass mein Vater einen tiefen, unerschütterlichen Glauben habe, einen Glauben, der durch kein irdisches Geschehen auch nur einen Deut ins Wanken geraten könne. Der Festigkeit dieses Glaubens hätten wir zu verdanken, dass meine Mutter am Leben geblieben sei, ja, auch mein eigenes Leben hätte ich wohl nur diesem starken Glauben zu verdanken.
Und wie hatte sich dieses, mein eigenes Leben vor den ersten Tagen, an die ich mich noch erinnern konnte, abgespielt? Nach Deiner Geburt, sagte mein Onkel, warst Du ein Kind wie jedes andere auch. Dein Verstummen begann erst, als Du etwa drei Jahre alt warst. Es war die Zeit, in der Du gar nicht mehr von Deiner Mutter lassen wolltest und in der Du Tag und Nacht so eng mit ihr zusammen warst, dass wir Deine Mutter vor dieser gefährlichen Entwicklung warnen mussten. Sie wollte Dich aber nicht freigeben, denn sie hatte einfach zu große Angst, dass auch Dir etwas passieren könne. Und Du? Du wiederum entwickeltest Dich zu Ihrem Beschützer, denn natürlich nahmst Du jetzt wahr, dass ihr etwas fehlte, dass sie Hilfe brauchte, dass sie dies und das nicht so bewältigte wie andere
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