Die Erfindung des Lebens: Roman
Seltsamerweise lächelt der Kellner und greift nach einer Flasche, die er mir hinhält. Wasser? Nein, ich schüttle den Kopf. Wein? Ja genau, ich strecke den rechten Daumen hoch, Wein, ein Glas. Er versteht mich, füllt ein Glas und schiebt es mir hin. Er will wissen, ob ich ihn verstehen kann, er fragt mich mit einer Geste beider Hände, ob ich taub bin. Ich bleibe ernst und verneine die Frage mit einem Kopfschütteln, nein, ich bin nicht taub, ich bin stumm. Er nickt und lächelt wieder, er hat mich verstanden. Ich greife nach dem Glas und trinke, der Wein schmeckt beinahe genauso wie der, den mir das junge Mädchen angeboten hat. Es ist ein leichter, unmerklich perlender Weißwein, wie ich ihn noch nie getrunken habe. In Deutschland habe ich fast überhaupt keinen Wein getrunken, und in Deutschland wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, ein solches Café zu betreten und dort ein Glas Wein zu trinken.
Warum aber hier, in Rom? Warum bin ich gerade ohne jedes Nachdenken in dieses Café und weiter an seine Bar gegangen? Ich erkenne mich nicht mehr wieder, nein, ich handle nicht mehr so, wie ich sonst immer gehandelt habe. Irgendetwas ist passiert, aber ich komme immer noch nicht darauf, was es sein könnte. Ich sitze regungslos an der Theke, als müssten mir jetzt endlich Antworten auf meine Fragen einfallen, es ist ein beinahe zwanghaftes Sitzen, denn ich spüre, dass ich ganz nahe an einer möglichen Antwort bin.
Drinnen im Café ist es angenehm kühl, ich leere mein Glas und will bezahlen. Der Kellner aber winkt ab, es ist so in Ordnung, ich brauche nicht zu bezahlen, anscheinend hat der stumme Mensch, als der ich aufgetreten bin, ihn gerührt. Ich schaue auf die Preisliste hoch oben hinter der Theke und erkenne, dass ein Glas Wein nicht viel kostet. Einen so geringen Betrag kann ich bezahlen, ja, das geht. Ich hole das Geld hervor, der Kellner macht eine abwehrende Geste, aber ich bezahle, denn ich will von meiner Notlüge nicht auch noch profitieren.
Als ich den Caféraum verlasse und wieder draußen unter den Arkaden stehe, habe ich die Ankunft hinter mir. Wie leicht und schön es war, in Rom anzukommen! Und wie leicht mir hier alles fällt! Ich spüre mich kaum noch, ich habe fast keine Erinnerung mehr daran, wie umständlich und schwer alles einmal war! Ist das Freude? Reine Freude? Ist das, was ich gerade empfinde, nicht die reinste, unbeschwerteste Freude?
Als sich die Fragen und Gedanken so zuspitzen, spüre ich eine plötzliche Hitze im Kopf. Es ist wie ein glimmendes Kribbeln, wie ein sich entzündendes kleines Feuer, das Flammen nach allen Seiten sprüht. Was ist mit mir? Ich verlasse den Arkadenbereich rasch und eile zurück zu der Marmorbank, auf der ich zuvor gesessen habe. Ich zwinge mich, jetzt an nichts Schlimmes zu denken, aber es geht schon, die Hitze lässt bereits nach. Ich brauche mich nicht zu beunruhigen, nein, ich brauche es nicht. Und warum nicht? Weil ich fort bin, ja, ich bin fort, ich lebe nicht mehr in dem Land, in dem ich so viel Angst ausgestanden habe, ich bin fort .
Als sich diese drei Worte immer wieder in meinem Kopf wiederholen, verstehe ich plötzlich, was seit meiner Ankunft in Rom geschehen ist. Ich fühle mich frei, ja, das ist geschehen, die Ankunft in Rom ist verbunden mit dem Gefühl einer einzigen, großen Befreiung. Niemand umkreist mich, nichts rückt mir auf den Leib, man lässt mich in Ruhe, zum ersten Mal in meinem Leben lässt man mich ganz und gar in Ruhe. Ich bin fort, murmle ich und sage dann den ersten lauten Satz in der Ewigen Stadt: Johannes, Du bist jetzt fort! Und weiter: Ich bin draußen, ich habe es endlich geschafft.
Als ich höre, wie ich das alles sage, und als sich die Sätze mit dem Anblick der herrschaftlich schönen und weiten Kulisse verbinden, ist aber nun doch alles zu viel. Verdammt! Ich sitze auf einer römischen Senatorenbank, und mir kommen die Tränen. Nicht einmal ein Taschentuch habe ich dabei, nicht einmal das! Und warum hört das Weinen nicht auf, warum nicht?
Es gibt nichts mehr zu weinen, es gibt hier keinen Grund für viele Tränen, Weinen und Tränen haben doch mit Schmerzen zu tun, aber ich empfinde hier keinen Schmerz. Nein, verdammt, wirklich nicht! Keinen Schmerz! Ich bin schmerzfrei! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, vollkommen schmerzfrei zu sein! Und deshalb ist jetzt auch Schluss mit den Schmerzgesten. Auch von den Schmerzgesten bin ich nämlich befreit. Kein Stummentheater
Weitere Kostenlose Bücher