Die Erfindung des Lebens: Roman
hatte und die mir daher vielleicht noch vertrauter war als eine mir unbekannte deutsche Stadt. So glaubte ich, gegen meine Ängste gewappnet zu sein …
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JETZT, JA. Ich sehe mich jetzt, wie ich zwei Tage nach dem endlich bestandenen Abitur auf der Stazione Termini in Rom ankomme. Ich habe nichts als meinen alten Seesack mit wenigen Utensilien dabei, und als erste Anlaufstation besitze ich nichts als die Adresse einer Kirche, die der deutschen Rom-Gemeinde gehört. Die Adresse habe ich von meinem Onkel erhalten, der mit dem Pfarrbüro der Gemeinde telefoniert und mich für den Morgen des kommenden Tages angemeldet hat.
Jetzt aber ist Nacht, es ist meine erste römische Nacht, und ich werde das wenige Geld, das ich bei mir habe, nicht für eine Übernachtung ausgeben, nein, ich werde meine erste römische Nacht im Freien verbringen. Und so gebe ich meinen alten Seesack an der Gepäckaufbewahrung ab und gehe ohne jedes Gepäck und nur mit einem kleinen Geldbetrag in der Tasche einfach los.
Ich stehe jetzt draußen im Freien, es ist kurz nach zweiundzwanzig Uhr, vor der Stazione Termini drängen sich die Ankommenden in die Busse und verschwinden ins Zentrum. Ich atme durch, ich bleibe stehen und schaue. Dort geht es zur Piazza della Repubblica, ja genau, und dort drüben ist das Thermenmuseum. Vor dem Bahnhof ballt sich eine wohltuende Wärme, die nach der langen Zugfahrt beruhigend wirkt. Ich gehe ein paar Schritte, spüre aber, dass mich etwas davon abhält, immer weiterzugehen. Ich habe es nicht eilig, ich habe Zeit, mich hier in der Nähe des Bahnhofs auf eine Bank zu setzen und nichts anderes zu tun als zu schauen. Es sind etwa zweihundert Meter bis zur Piazza della Repubblica, einem kreisrunden Platz mit einer großen Brunnenanlage. Von dort geht der Blick einen breiten Corso hinab in die vom gelben Straßenlicht durchfluteten Häuserschluchten. Der unermüdlich fließende Verkehr. Die Kaffeearomen in der Nähe der Brunnen. Die hohen Pinien mit ihren hellbraunen, gefleckt im Neonlicht schimmernden Stämmen.
Ich setze mich auf eine Bank, es ist eine breite, kühle Marmorbank ohne Rückenlehne, es ist eine Bank für mindestens sechs Personen, die ringsum auf ihren Rändern sitzen könnten. Ein junges, schwarzhaariges Mädchen in einem fleckigen weißen Kleid setzt sich zu mir und bettelt um etwas Geld. Ich mache ein paar Zeichen: Ich habe kein Geld, und außerdem bin ich stumm. Ich bin eine stumme, beinahe mittellose und hungrige Person. Sie starrt mich an und schüttelt den Kopf. Ich begreife nicht, was sie von mir will, ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt. Sie legt ihre rechte Hand auf meine Schulter, als müsste sie mich beruhigen, dann verschwindet sie.
Später erscheint sie plötzlich wieder, jetzt hat sie eine kleine, armselige Tasche dabei. Sie stellt die Tasche neben mir ab, holt zwei Gläser hervor und füllt sie aus einer großen bauchigen Flasche mit Wein. Sie sagt kein Wort, sie deutet auf die beiden Gläser, ich nehme eines in die Hand, wir trinken. Sie fragt mich etwas, ich nicke, sie fragt mich weiter, ich mache eine hilflose Geste, dann trinken wir aus, und sie verschwindet blitzschnell hinter meinem Rücken ins Dunkel.
Ich sitze und schaue weiter, ich bin ganz ruhig, es ist seltsam, aber ich habe nicht das Gefühl, an einem fremden Ort angekommen zu sein. Woher kommt das? Warum fühle ich mich nicht fremd? Was ist mit dieser Stadt?
Ich sitze da, als könnte ich mich nicht von der Bank lösen, bevor ich diese Fragen nicht beantwortet habe. Irgendetwas ist seit meiner Ankunft geschehen, aber ich verstehe nicht, was es ist. Ich spüre nur, dass ich anders als bei meinen sonstigen Fluchten und Reisen weder eine gewisse Anspannung noch irgendeine Unruhe empfinde, im Gegenteil, ich fühle mich leicht, unbeschwert, ja kurz davor, etwas zu singen. Ich will singen? Wieso will ich singen? Was, verdammt noch mal, ist denn bloß mit mir los?
Endlich stehe ich auf, überquere den Platz und gerate unter die hohen Arkaden eines Cafés. Die Menschen sitzen draußen im Freien, niemand nimmt von mir Notiz, ich kann an all diesen kleinen Tischen entlanggehen, ohne beachtet zu werden. Und wie ist es drinnen? Ich gehe in das Café und setze mich an die lange Theke der Bar, ich will etwas auf mein Wohl trinken, ja, ich will diesen einzigartigen Moment feiern, meine Freude, meine Erleichterung.
Als die Bedienung kommt, mache ich eine Trinkgeste und deute an, dass ich stumm bin.
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