Die Erfindung des Lebens: Roman
kurbelt die Scheibe sofort wieder hoch.
Ich nehme den Seesack auf den Rücken und gehe los, ich verlasse die Dorfstraße, biege auf eine schmale Landstraße ein und gehe schließlich auf einem Feldweg weiter. Das Getreide ist schon gemäht, nur die dunkelgrünen Maisstauden stehen noch hoch. Als Kind bin ich zwischen ihnen wie in einem Dschungel verschwunden. Während des Gehens auf dem Feldweg wird die Rührung immer stärker, ich habe das beengende Gefühl, von allem, was ich sehe, begrüßt und erdrückt zu werden.
Ich muss schlucken, immer wieder, schon wenn ich die weiten Stoppelfelder und die Waldlinien des Horizonts sehe, muss ich schlucken. Erst jetzt bemerke ich, wie lange ich keine Wälder wie diese mehr gesehen habe. Am liebsten würde ich mich irgendwo am Rand eines Feldes hinlegen und ausruhen, ja, am liebsten würde ich ganz in der Stille verschwinden.
Dann der letzte Anstieg, am Stromhäuschen vorbei, an den Kuhweiden, an der Pferdekoppel, das alte Wegkreuz steht jetzt neben einer neuen Bank. Ich sollte mich einen Moment setzen, nein, das sollte ich nicht, ich sollte es hinter mich bringen, ich sollte mich jetzt zeigen, ich sollte klopfen oder klingeln, ich sollte aufgeben, noch etwas anderes zu wollen als klopfen oder klingeln.
Dort drüben beginnt unser Wald, die Hecken am Zaun entlang sind viel höher und dichter als früher, man kann das Haus auf der Höhe nicht mehr sehen. Das breite Zauntor steht offen, rechts der kleine Briefkasten, dann die großen Holzstapel und die Haselnußsträucher. Die dunklen Eiben, wie groß sie geworden sind, und die schweren Buchen sind mit ihren Wipfeln dicht an das Hausdach gerückt!
Jetzt, jetzt erkenne ich das Haus doch, in der Küche ist Licht, auch im Esszimmer könnte sich jemand aufhalten. Ich kann aber nicht weitergehen, ich kann das Bild des Elternhäuschens nicht ertragen, es ist zu viel. Ich bleibe stehen und starre auf das erleuchtete Haus, dann schlage ich mich nach links in den Wald. Auch das Blockhaus meines Vaters ist erleuchtet, ich schleiche mich an und bleibe dann seitlich des Hauses stehen.
Ich höre Musik, vielleicht hört mein Vater gerade Musik, ja, jetzt erkenne ich das Stück wieder, mein Vater hört eine Arie aus einem Oratorium von Händel. Mein Vater liebt Händel, mein Vater liebt die alte Musik, wahrscheinlich hat er seine große Schallplattensammlung jetzt vollständig im Blockhaus untergebracht.
Einen kleinen Schritt noch mache ich vorwärts und schaue dann vorsichtig durch das Fenster. Der große Schreibtisch ist mit lauter Zeichnungen bedeckt, und auch an den Wänden sind viele Messtischblätter und Zeichnungen angebracht.
Es gibt einen bequemen Stuhl in der Nähe des Fensters, und es gibt lauter grüne, mit feinen Tuschbuchstaben beschriftete Kartons auf mehreren großen, bis zur Decke reichenden Regalen. Ich höre die Musik gut, aber mein Vater ist nicht im Zimmer, wahrscheinlich ist er vor wenigen Minuten hinunter ins Haus zum Essen gegangen.
Ich überlege, ob ich Vaters Blockhaus betreten soll, nein, auch das kommt gar nicht in Frage. Mein Weg führt jetzt direkt hinab zum Wohnhaus, dort habe ich zu klopfen oder zu klingeln. Ich wische mir die Stirn trocken, immer wieder, ich schwitze, ich stelle den Seesack vor der Tür des Blockhauses ab. Dann gehe ich in der einsetzenden Abenddämmerung auf das Haus zu.
Ich gehe die letzte, schmale Treppe herunter, das erste Fenster, das ich erreiche, ist das Fenster der Küche. Ich stelle mich nicht vor das Fenster, ich klopfe noch nicht, ich schaue vorsichtig von der Seite hinein. Alles, was ich sehe, erscheint, als wäre es in den Stein der Ewigkeit gehauen: Der Küchentisch mit der grünen, abwaschbaren Decke, der alte Herd mit den kleinen Brikettsäulen im unteren Fach, der Elektroofen, die weiße Küchenuhr mit dem langsam voranrückenden Sekundenzeiger, die beiden Küchenstühle, der helle Fliesenboden.
Meine Mutter hat gerade das Abendessen vorbereitet, auf dem Tisch liegen Bündel von Radieschen, eine angeschnittene Gurke, Tomaten und grüner Salat. Daneben steht eine große Platte mit verschiedenen Käse-Sorten, die anscheinend später noch in das Esszimmer geholt werden soll.
Meine Eltern sitzen im Esszimmer am Esstisch, sie essen zusammen zu Abend … – als ich die Küchenszene überflogen habe, weiß ich das genau. Ich schleiche um das Haus und nähere mich dem Fenster des Esszimmers entlang einer Reihe hoch stehender Eiben. Man kann mich vom
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