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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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gewöhnlich.
     
    Überhaupt war es schön, dass die Menschen während eines Gottesdiensts so viel gemeinsam und meist auch noch dasselbe taten, endlich redeten sie nicht ununterbrochen, sondern nur dann, wenn sie darum gebeten wurden, und endlich bewegten sie sich auch nicht laufend von einer Stelle zur andern, sondern hielten es eine Zeit lang singend und betend auf einem einzigen Platz aus.
    Singen und Beten, beides mochte ich sehr, im Stillen sang und betete ich ja mit und stimmte ein in das, was nun alle sangen und beteten, dadurch aber machte ich endlich einmal etwas mit den anderen Menschen zusammen und befand mich nicht mehr im Abseits, nahe einer Laube, oder ganz allein mit der Mutter, am Ufer des Flusses.
    Im Dom gehörte ich vielmehr dazu, ich gehörte zu all diesen laut singenden und betenden Menschen, niemand fragte mich aus, sprach mich an oder behauptete, dass ich ein armes Kind sei, denn im Dom gab es überhaupt keine armen Kinder, sondern nur Gotteskinder, jedenfalls nannte der Erzbischof die Gläubigen so. Ein Gotteskind zu sein, war für mich also die eigentliche Erlösung und einer der schönsten Zustände überhaupt, deshalb bemühte ich mich im Dom auch sehr, alles richtig und so wie die anderen zu machen.
    Die einzige Störung des Gottesdiensts, die jedes Mal nur schwer zu ertragen war, war die Predigt. Von Anfang, vom Stürmen der Orgel und den leisen Gesängen des Chores, an, war der Gottesdienst etwas Feierliches, Festliches, wenn aber die Predigt kam, war es für eine Weile aus mit der Feierlichkeit. Die Predigt störte mich nicht deshalb, weil ich nicht alles verstand, sondern vor allem, weil überhaupt so lange geredet und alles erklärt wurde. Musste denn alles, aber auch alles, beredet und umständlich erklärt werden? Selbst der sonst aufrecht und gerade dasitzende Vater sackte während der Predigt immer ein wenig müde und gelangweilt in sich zusammen, während die Mutter das Predigen erst gar nicht aushielt und in einem Gebetbuch zu lesen begann.
    Nach der Predigt musste man erst wieder in den Gottesdienst hineinfinden. Eine Weile sangen und beteten alle etwas leiser und gedämpfter, und erst wenn das große Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr. Heilig, heilig, heilig, heilig ist nur Er … gesungen wurde, hatte der Vater seine mächtige Stimme wiedergefunden und sang wieder so laut, dass ich durchatmen konnte.
     
    Solche festlichen, oft bis zu zwei Stunden dauernden Gottesdienste endeten mit dem erzbischöflichen Segen und der lakonischen lateinischen Formel Ite missa est (so geht nun hinaus, die Messe ist vorbei). Danach verbeugte man sich noch einmal kurz, und der Organist spielte ein letztes, jubelndes, die Festscharen aus dem gewaltigen Gebäude mit Schwung hinausfegendes Stück. Wie betört flog man ins Freie, auf windiges, unwirtliches Terrain, wo man es nicht lange aushielt.
    Die Zeremonie hatte einen verwandelt, vom ersten Musikstück an nahm sie einen gefangen und richtete den Blick aus auf die langsamen Bewegungen der Geistlichen am Hochaltar. So war der Blick für Stunden fixiert, und während man jede Einzelheit genau verfolgte, die sich dort als eine heilige Handlung vollzog, rückte einen die Musik immer näher heran an das Geschehen. Das laute Singen, das deklamierende Beten – sie machten aus dem schmächtigen, unsicheren Kindskörper einen erregten, gebannten Körper für die großen Momente.
     
    Im Dom lernte ich also das eigentliche Sehen und Hören, ein Sehen von schönen Gebärden und kunstvollen Gestalten, ein Hören der reinsten Musik, einer Chormusik ohne Begleitung, oft einstimmig. Sie füllte den Kindskörper aus und machte ihn zu ihrem Widerpart, es war, als gösse der gewaltige Gott diese Musik in einen hinein, damit man allen Kummer und alle Sorgen zumindest für die Dauer des Gottesdienst vergaß.
    Danach aber war Mittag, und zu einem sonntäglichen Mittag gehörte ein Mittagessen in einer der Wirtschaften ganz in der Nähe des Doms. Nur selten habe ich erlebt, dass wir an einem Sonntag zu Hause gegessen haben, eine gewisse Leere fiel einen in solchen Fällen an, etwas Lähmendes, Erstickendes, als wäre man gar nicht zu Hause oder als wäre man geschlagen mit schlechter Laune.
    Zum Mittagessen in einer Wirtschaft dagegen nahm man die gute Laune, die einen nach jedem Besuch eines Gottesdiensts beflügelte, einfach mit. Wir saßen zu dritt an einem kleinen, festlich gedeckten Tisch und bestellten jeden Sonntag dasselbe: Rheinischen Sauerbraten

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