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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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eine der hinteren, noch leeren Bankreihen gesetzt hätte, das jedoch kam für Vater nicht in Frage, er wollte jedes Mal weit nach vorn, in die Nähe des Hauptaltars, die Weihrauchwolken, die während des Gottesdienstes von dort durch das Kirchenschiff zogen, sollten uns erreichen und einhüllen wie schwere Gewänder.
    Erst im rechten Querschiff, ganz in der Nähe der Vierung, knieten wir uns in eine Bank, und mein Blick schoss wieder hinauf in das hohe Gewölbe über dem Hauptaltar, wo es eine winzige, helle Öffnung gab, durch die das Sonnenlicht hineinströmen konnte. Ich glaube nicht, dass jemand sonst diese Öffnung bemerkte, sie war eines der vielen Details, wie sie nur Kindern auffallen, ein winziges, kreisrundes, helles, das Sonnenlicht einatmendes Loch, das Schlupfloch des großen Gottes, der in diesem Dom sein eigentliches Haus und in die kleineren Kirchen seine Stellvertreter, seine Jünger und Heilige, vor allem aber die Gottesmutter geschickt hatte, damit sie einen vorbereiteten für das Schwierigste, dafür, seine Größe zu ertragen und vor ihm zu bestehen.
     
    Bis der Gottesdienst begann, dauerte es dann meist noch einige Zeit, das machte aber nichts, denn in der Zeit bis zu seinem Beginn hatte ich viel damit zu tun, mir alles in meiner Nähe anzuschauen, die Heiligenfiguren an den hohen Pfeilern, den mächtigen, goldenen Schrein im Chor oder die vielen brennenden Kerzen in der Nähe des Altars mit einem großen Bild der schönen Maria.
    Schließlich aber war es so weit, ein feines, helles Glöckchen meldete sich, und dann standen alle rasch, mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung, auf, und die Orgel begann etwas sehr Lautes zu schmettern, unglaublich laut brauste ihr Klang, als rauschten viele Engel zugleich mit ihren Flügeln und sausten wie im Sturm zwischen den Pfeilern hindurch, hinauf, bis unter das Dach und pfeilschnell an den bunten Fenstern aus Glas vorbei, die ich so gerne betrachtete.
    Vom Eingang der Kirche, also von dort, wo jetzt eine unübersehbare Menge von Menschen stand, näherte sich dann die lange Schar der rot-weiß gekleideten Ministranten, die kleinen voran, die großen hinterher, dann aber kamen die Priester, viele Priester, und endlich der Erzbischof, ein älterer, die Menschen unablässig segnender Mann mit einem Hirtenstab in der Hand. Die Orgel schmetterte noch eine Weile und trieb die Engelsscharen zu immer schnelleren Flügen an, dann aber brach ihr Klang von einem auf den andern Moment zusammen, und es war sekundenlang still.
    Während dieses erschreckend plötzlichen, stillen Moments holte ich meistens tief Luft, die rasenden Engel waren verschwunden, jetzt kam alles ein wenig zur Ruhe, denn jetzt war der Chor dran, nur wenige Stimmen, anfangs kaum hörbare, dann aber immer deutlicher werdende Stimmen. Ich wusste längst, was sie sangen, ohne dass ich den Text verstanden hätte, im Dom wurde in seltsamen Sprachen gesungen und gebetet, Bruchstücke der Gebete hätte ich nachsprechen können, am liebsten aber hätte auch ich mit den anderen gesungen.
    Statt meiner sang aber nur der Vater, jedes Mal wartete ich darauf, dass er zu singen begann, denn er sang lauter und kräftiger als alle anderen Gläubigen in unserer Nähe, was mich immer wieder so sehr erstaunte, dass ich ihn jedes Mal einen kurzen Moment lang anschaute. War das wirklich der Vater, der da so laut sang?
    Ich schaute genau hin, um mich zu überzeugen, ja, es war der Vater, das aber war jedes Mal schwer zu verstehen, denn der laut singende Mann hatte eine ganz andere Stimme als die, die Vater sonst hatte. Es war eine tiefe, beharrliche Stimme, es war, als träte sie langsam, wie eine ernste Gestalt, aus einem dunklen Raum hervor, denn sie begann leise und vorsichtig, um sich dann von Ton zu Ton immer lauter zu steigern. Wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau … - so ein Lied für die schöne Maria sang der Vater, nach einem kurzen Anlauf stieg seine Stimme in die Höhe und hörte sich schließlich beinahe an wie eine Fanfare.
    Ich wäre über Vaters Stimme nicht weiter verwundert gewesen, wenn er auch sonst, zu einem anderen Anlass, einmal laut und kräftig gesungen hätte, er sang aber sonst niemals irgendein Lied, ja er summte nicht einmal eine Melodie vor sich hin. Im Dom aber sang er urplötzlich wie ein großer, mächtiger Sänger, der die anderen Gläubigen mit seinem Gesang ansteckte, so dass auch sie sich bald etwas trauten und lauter sangen als

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