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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Knistern der brennenden Kerzen oder ein Holzknarren, irgendjemand hatte den Finger auf den Mund gelegt und allem Lebendigen befohlen, stiller und immer stiller zu werden.
    Je stiller alles wurde, umso deutlicher aber strahlte das Marienbild auf, so dass ich schließlich sehr ruhig wurde und nur noch in das Gesicht der schönen Maria starrte, als würde ich von ihm in eine Hypnose der Stille versetzt. In dieser Hypnose begann ich zu beten, aber nicht so, dass ich mir bestimmte Worte ausgedacht hätte, sondern eher, indem ich zunächst zuhörte, wie das Beten in mir von selbst begann.
    Das Beten begann, wenn mir die bekannten, großen Gebete einfielen, eins nach dem andern kam mir ganz von allein in den Sinn, und ich dachte und sprach sie im Kopf dann von Anfang bis Ende. Die Intensität, mit der ich betete, kam aber auch daher, dass ich neben meiner hingebungsvoll betenden Mutter kniete. Wenn ich etwas verstohlen zur Seite blickte, sah ich genau, wie sehr sie das Beten berührte, es war, als nähme sie sich aufs Äußerste zusammen, so angespannt und konzentriert kniete sie auf der harten Bank und schaute unentwegt die schöne Maria an.
    Dieses Anschauen wirkte so, als bettelte sie um ein Gespräch, eine Entgegnung oder zumindest um einen kleinen Wink, alles an ihr hatte etwas Dringliches, so dass ich annehmen musste, es gehe um das Wichtigste überhaupt, um Leben und Tod. Die Anspannung und die hohe Bedeutung, die dem Beten anscheinend zukam, ließen mich daher annehmen, es gebe zwei Leben, das Werktagsleben mit all seinen kleinen Hindernissen, Sorgen und Peinlichkeiten, und das Sonntagsleben mit den Gebeten, dem Besuch des Gottesdienstes und einem festlichen Mittagessen, das an Schönheit und Feierlichkeit genau zu den sonntäglichen Gebeten und Gottesdiensten passte.
     
    Das Gebet und die Gottesdienste waren also ein Hintreten vor Gott, man machte sich klein, sagte seine Verse und Texte auf, bat um seinen Segen und erzählte ihm, was in der letzten Zeit alles geschehen war. Vor allem solche Erzählungen machten das Besondere des Betens aus, man schaute noch einmal zurück, man ließ sich etwas durch den Kopf gehen, oder man überlegte, ob man in dieser oder jener Situation richtig gehandelt hatte.
    So war Gott die höchste und strahlendste Instanz, vor der das kleine Leben zusammenschnurrte und sich in ein weites, offenes, großes Leben verwandelte. Der gewaltigste Ausdruck dieses großen Lebens aber stand am Rhein, denn ganz in der Nähe des Rheinufers befand sich der Dom und damit eine Kirche, die alle anderen Kirchen überragte und auch sonst nicht mit ihnen zu vergleichen war.
     
    Alle paar Sonntage in den Dom zu gehen – das war in jenen Kinderjahren eines der Erlebnisse, die mich gewiss am stärksten geprägt haben. Es begann damit, dass wir zu dritt am Rhein entlanggingen, die Eltern zu zweit und ich oft auf dem Roller, ihnen voraus. Schon von Weitem waren die mächtigen Domglocken zu hören, ihr schwerer Klang füllte das ganze Rheintal und zog einen wie magisch in die Nähe des hohen, schwarzen Gebirges aus Stein, das auf einer kleinen Anhöhe stand, zu der man über viele Stufen hinauf gelangte.
    Ich weiß noch genau, wie sehr ich damals bei jedem Betreten des Kirchenraums erschrak, denn sofort nach Passieren des großen Portals ging der Blick ja hinauf, in die schwindelerregenden Höhen, an den Pfeilerbündeln und bunten Kirchenfenstern entlang. Ich blieb stehen und wusste nicht weiter, so wie mir erging es aber den meisten Besuchern, sie blieben stehen und schauten eine Zeit lang in die Höhe, als müssten sie zunächst einmal Maß nehmen und sich auf diese den Körper überwältigenden Größenverhältnisse einstellen.
    Hinzu kam eine plötzliche, heftige Kühle, es war, als hauchte einen diese eisige Kühle von den Pfeilern und grauen Steinen her an und als bliesen all diese Steine einem ihren jahrhundertealten, leicht modrigen Atem entgegen. Etwas Säuerliches, Bitteres war in diesem Atem, etwas, das einen zurückschrecken und hilflos werden ließ, man wusste nicht genau, ob man in diesem Bau denn auch willkommen war, so viel Fremdheit und Strenge begegneten einem.
    Da war es gut, dass der Vater dabei war, denn mein Vater nahm mich meist an der Hand und ging dann mit mir voraus, wir bahnten uns einen Weg durch das rechte Seitenschiff, wo die Menschenscharen bereits dicht gedrängt standen. Nahe der Vierung warteten wir auf meine Mutter, die sich am liebsten gleich nach dem Betreten des Doms in

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