Die Ernte
den attraktiven Mann, der ihr gegenüber am Tisch saß.
»Lies mir doch noch ein bisschen aus der Heiligen Schrift vor«, bat Bill Lemly in seiner tiefen, ruhigen Stimme. »Ich verstehe sie besser, wenn du vorliest. Dann hört es sich wie ein Gedicht an.«
In seinen grobknochigen Händen hielt er ein Sprite. Er blickte Nettie aus seinen sanften braunen Augen an und lächelte. Sie war gerade beim Lukasevangelium, Kapitel vier. Vielleicht war das nicht gerade die beste Wahl, um jemanden langsam zu umgarnen.
Sie las: »Jesus aber, voll des Heiligen Geistes, kam wieder von dem Jordan und ward vom Geist in die Wüste geführt und ward vierzig Tage lang vom Teufel versucht. Und er aß nichts in diesen Tagen, und da sie endeten, hungerte ihn danach.«
Sie blickte erneut auf und sah, dass Bill leicht nickte, so als ob er vom Rhythmus der Bibelverse verzaubert wäre. Oder vielleicht hatte er ja nur auf den Regen gehört, der auf das Dach ihrer Wohnung prasselte.
Nettie las weiter: »Der Teufel aber sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich zu dem Stein, dass er Brot werde. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es steht geschrieben, der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von einem jeglichen Wort Gottes.
Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Erde in einem Augenblick und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit, denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will. So du nun mich willst anbeten, so soll es alles dein sein.«
Nettie dachte, dass es sie nicht stören würde, wenn Bill sie anbeten würde. Und alle Reichtümer ihres Körpers würden dann ganz sicher ihm gehören.
Bill beugte sich vor, hielt seine Hände unter den Tisch und presste seine Kiefer fest aufeinander, so als ob er auch auf die Reichtümer des Teufels aus Gold und Marmor blicken würde. Er schien in einen Zustand der Verzückung versetzt zu sein. Nettie nahm einen Schluck von ihrem Softdrink. Sie hätte eigentlich lieber einen Schluck Wein getrunken, aber sie hatte Angst, dass Bill das nicht gutheißen könnte. Sie schluckte und fuhr fort.
»Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: Du sollst Gott, deinen Herrn, anbeten und ihm allein dienen. Und er führte ihn gen Jerusalem und stellte ihn auf des Tempels Zinne und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so lass dich von hinnen hinunter. Denn es steht geschrieben: Er wird befehlen seinen Engeln von dir, dass sie dich bewahren und auf den Händen tragen, auf dass du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stößt.«
Nettie wünschte, dass sie ein Engel wäre. Nicht so einer, wie sie es im Himmel sein würde, nein, einer auf Erden, so dass Bill sie lieben würde. Aber sie wusste, dass ihre Haare dunkel waren und dass Engel normalerweise blond waren. Und sie war eher klein und zierlich, nicht drall und rundlich. Kein Wunder also, dass Bill noch keine Avancen gemacht hatte, nicht einmal vier Monate seit ihrem ersten Date.
Sie blickte ihn noch einmal an und sah, wie er wegblickte und wie aus Selbstvorwurf die Stirn runzelte. Er musste sich Vorwürfe machen, weil er mit so einer schlichten und unattraktiven jungen Frau ausging. Vielleicht tat er es ja nur aus Mitleid und Bill war nur nett zu ihr, weil er es als seine Pflicht als Christ hielt. Sie beendete das Kapitel und schloss ihre Bibel. Sie legte ihre Hände über die Hälfte des Küchentisches und hoffte insgeheim, dass er sie ergreifen würde. Aber Bill schien noch immer in seinen Gedanken versunken zu sein.
»Sollen wir ein wenig fernsehen«, fragte sie und hoffte, dass sie nicht allzu verzweifelt klang.
Wenn sie nebeneinander auf dem Sofa saßen, dann konnte er wenigstens nicht anders als sie zu berühren. Und das wäre gar nicht schlecht, so nahe an seinem warmen, starken Körper. Sie würde ganz leicht sein maskulines Aftershave riechen können und vielleicht auch eine Andeutung seines Körpergeruchs. Und vielleicht würde sie es wagen, ihren Kopf ganz leicht auf seine Schulter zu legen, bis sie seinen Atem auf ihrer Wange spüren könnte.
Und während sie in ihren Gedanken das Wort "Sofa" formte, dachte sie eigentlich an "Bett" und wollte eigentlich, dass er aufstehen, sie in seine starken Armen nehmen und sie zärtlich auf das saubere, weiße Leintuch ihres Bettes legen würde. Er würde sich dann über sie beugen mit seinen Lippen und Haaren und Händen überall auf ihrem …
Bill stand hastig auf, so dass sein Stuhl auf dem
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