Die Ernte
dich alle fünf Minuten küssen.«
»Kann ich das schriftlich haben?«
»Du kennst mich doch schon gut genug. Nach allem, was wir durchgemacht haben?«
»Solange wir zusammenhalten, können wir alles schaffen«, sagte sie. Das klang vielleicht schon abgedroschen. Aber es war ihr egal. Es stimmte, egal ob es Außerirdische betraf oder einfach die Schwierigkeiten des Alltags.
»Du hast mir noch immer nicht erzählt…«
»Ich werde es erzählen, wenn ich dazu bereit bin. Es gibt noch so viele Sachen, über die ich mir selbst erst klar werden muss.«
»Es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe. Wegen…«
»Der inneren Stimme. Und weil du egoistisch warst.«
»Weil ich an dir gezweifelt habe. Und weil…du weißt schon.«
»Shhh. Ich weiß. Du bist auch nur ein Mensch, Gott sei Dank.« Sie berührte ihn leicht am Kopf. »Ich weiß. Ich war ja da drinnen , weißt du noch?«
»Und wirst du für den Rest meines Lebens meine Gedanken lesen können?«
»Alle Ehefrauen können das.«
Sie schaute nachdenklich Ginger an. Sie konzentrierte sich voll auf das Spiel. Kevin war eigentlich schon zu alt für das Kartenspiel, aber er spielte mit ihr, weil Ginger ihn darum gebeten hatte. Er war ein guter Bruder.
Tamara war nach der Explosion von Emotionen und Kräften überladen gewesen, so als ob die sterbende Seele des Shu-shaaa in ihren Verstand eingedrungen wäre. Und sie hatte lauter seltsame Dinge sehen und tun können. Gedanken zu lesen war einfach. Damit konnte sie umgehen. Aber andere Sachen hatten ihr Angst gemacht. Sie konnte mit ihren Gedanken Dinge bewegen, die Äste der Bäume biegen und die Wolken im Himmel steuern. Und sie glaubte - obwohl sie es nicht versuchen wollte – dass sie sogar die Erde schneller drehen oder den Mond für einen Gute-Nacht-Kuss herabsteigen lassen könnte.
Und Tamara hatte Gingers Kräfte gespürt. Sie war eine kleinere, unfertige Ausgabe ihrer selbst. Niemand sollte mit diesem Fluch leben müssen. Niemand sollte in die Zukunft blicken können.
Sie wollte nicht, dass Ginger für den Rest ihres Lebens von einer Stimme verfolgt werden würde. Deshalb hatte sie diese Kräfte aufgesaugt, hatte sie aus Gingers Verstand verbannt. Wie sie das gemacht hatte, würde sie selbst in tausend psychologischen Aufsätzen nicht beschreiben können.
Ginger wendete ihren Blick von den Karten weg, lächelte Tamara an und nahm dann einen Schluck von ihrer heißen Schokolade. Ein normales sechsjähriges Mädchen. Mit ihren nackten Zehen hob sie einen Wachsmalstift auf, führte ihn in ihren Mund und biss darauf.
Nun ja, vielleicht sogar ZU normal.
Tamara wünschte sich, sie könnte ihre Kräfte auch so einfach loswerden. Sie glaubte nicht, dass sie richtig damit umgehen konnte. Kein Normalsterblicher konnte das.
Aber ihre Kräfte wurden schon schwächer. Sie würden nicht immer da sein und Tamara wusste, dass das so gut war. Was sie noch störte, war die bleibende Erinnerung an den Todesschrei des Shu-shaaa.
Jede Nacht, wenn Tamara ihre Augen schloss und in das Reich des Schlafes gleiten wollte, verfolgte sie dieser Schrei. Es war ein Schrei voll Schmerz, eine Agonie, hervorgerufen durch die Erkenntnis, dass es nur Zerstörung und Verderben auf die Erde gebracht hatte.
Kurz vor der Explosion hatte es sich mit Tamara verbunden und den seltsamen Rhythmus menschlicher Gedanken und Sprache übersetzen können. Es hatte endlich verstanden, wie hoch der Preis für das eigene Überleben gewesen wäre. Und es hatte – auf seine eigene Art und Weise – Reue gezeigt. Es hatte sich mit Tamara und den anderen in dieser riesigen Welle der menschlichen Gemeinschaft verbunden, die sie selbst in die Vernichtung geschwemmt hatte.
Die Kreatur hatte ihren eigenen Tod akzeptiert, so dass die anderen leben konnten.
In Tamaras dunkelsten Momenten, wenn Robert schon schnarchte und ihre Leintücher feucht und warm waren, fragte sie sich, ob das Alien nicht die menschlichste Kreatur von allen gewesen war.
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Irgendwo im Kosmos, am Rande der kosmischen Nebeln und Oortschen Wolken und Asteroidengürteln und weißen Zwergen hielt das Shu-shaaa inmitten von seinem Sterne-Grasen inne. Seine Glieder spürten nur einen kurzen Stich, als einer ihrer Gemeinschaft starb. Es war kein wirklicher Schmerz, nur eine kurze Leere, die schnell wieder aufgefüllt und dann vergessen wurde.
Der Rest graste seelenruhig weiter.
ENDE
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Über Scott Nicholson:
Scott Nicholson ist ein internationaler
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