Die Ernte
hinterlassen hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Lemly.
»Wissen Sie, ob Nettie da ist?«, fragte Lemly. »Sagte mir, ich solle sie um Punkt sechs Uhr abholen und es ist schon soweit.«
»Sie ist in der Sakristei, Bruder. Hat uns wahrscheinlich wegen des Regens nicht gehört.«
»Kann ich zu ihr nach hinten gehen?«
»Nur zu, Bruder. Aber entführen Sie mir bitte Nettie nicht, bevor sie nicht die Buchhaltung unserer Kirchengemeinschaft abgeschlossen hat.«
Lemlys Lachen erdröhnte wieder, dann verließ er den Raum, wobei seine nassen Schuhsohlen auf dem Holzboden der Kirche quietschten.
Verdammt. Armfield hatte gehofft, dass Lemly wegen irgendeiner Idee hergekommen war, einem spirituellen Zeltfest oder einem Gospelkonzert, um die leeren Kassen der Windshake Baptistenkongregation zu füllen. Und bei der Gelegenheit hätten auch sicher ein paar Dollar den Weg in Armfields Taschen gefunden. Aber Lemly war hinter Nettie her.
Hmm. Das schickte sich aber nicht. Beide sind single und stehen im Dienste der Kirche. Noch ziemlich jung und anfällig für die Verlockungen des Fleisches, schwach gegen die Stimme des Teufels. Und die hiesige Bevölkerung hatte spitze Zungen.
Er wird auf beide ein Auge werfen müssen. Das würde ihm nicht schwerfallen, besonders bei Nettie.
»Was machst du hier, junge Dame?«, fragte er seine Tochter.
»Mama hat mich hierher geschickt, um dir zu sagen, dass das Abendessen fertig ist«, sagte sie.
Ihr Gesicht leuchtete vor Unschuld und Jugend, wie das Antlitz der Jungfrau Maria in vielen Renaissance-Gemälden. Sie hatte die zarte Haut ihrer Mutter mit ein paar leichten Sommersprossen auf ihren seidigen Wangen. Obwohl er eigentlich gar nicht mehr genau wusste, wie die Haut ihrer Mutter aussah, trug diese doch mehr Makeup als eine Drag Queen.
Armfield blickte auf die geöffnete Bibel und legte sie dann wie ein Baby in seine hohlen Hände. Er drückte sie voll Liebe an seine Brust. Das Gewicht des Buches war Trost für ihn. Die vergoldeten Seitenränder gaben ihm Kraft. Und sie war ein verdammt wichtiges Utensil, wenn er so tat, als ob er von Jesus persönlich berührt wurde. An Sonntagen, wenn er fühlte, dass seine Gemeinde eine extra Portion religiöser Stimulierung brauchte, lieferte er nämlich auf der Estrade ein Spektakel ab, bei dem er voller Leidenschaft gegen die Sünder Gift und Galle spuckte.
Diese Auftritte waren eigentlich der Grund dafür, dass er von der Baptistenkirche nach Windshake geholt wurde. Während viele von den südlichen Baptisten-Gemeinschaften geschiedene oder liberale Priester und sogar ein paar konvertierte Episkopale in ihren Kirchen predigen ließen, hielt sich Windshake wie ein Fels in der Brandung. Auf der letzten Klausurtagung der Baptisten hatte sich sogar ein paar vormals konservative Priester dafür ausgesprochen, den Zugang zur Kirche "im Angesicht der fortschreitenden Modernisierung" zu erleichtern. Was auch immer das heißen sollte, für Armfield hörte es sich an, als wolle man die Kirche an den Teufel verkaufen.
Ein bisschen reinigendes Feuer konnte also in Windshake nicht schaden. Die meisten Angehörigen seiner Gemeinde fühlten, dass das, was für ihre Großeltern gut genug war, für sie nur recht und billig war.
Allerdings waren in letzter Zeit ein paar Rivalen in der Nähe von Armfields religiösem Hoheitsgebiet aufgetaucht. Die Erste Baptistenkirche in Piney Ford setzte ihm schon zu. Da war dann noch eine Methodistenkirche auf der hinteren Seite von Sugarfoot und eine kleine Lutheranische Kirche in einem umgebauten Gemüseladen in Stony Creek. Und er hatte gehört, dass sich sogar eine Gruppe von Unitariern wöchentlich im Keller eines Buchladens traf.
Aber Armfield war nicht besonders besorgt. Ein bisschen Konkurrenz konnte ja nicht schaden. Es war auch ein Zeichen dafür, dass sich in Windshake in den letzten Jahren ein paar wohlhabende Touristen eingekauft hatten. Seit Armfield die Kanzel in der Kirche übernommen hatte, hatten sich die Einnahmen seiner Kirche jedes Jahr um ungefähr acht Prozent gesteigert. Nun, offiziell waren es nur drei Prozent, nachdem Armfield seinen "Bonus" abgezogen hatte.
»Kommst du jetzt, Papa?«, fragte Sarah und das Echo ihrer Stimme wurde von den glänzenden Holzornamenten und dem Kristallglas in seine haarigen Ohren geleitet.
»Das hängt davon ab, was es zum Essen gibt. Wenn es schon wieder eines dieser vegetarischen Omeletts ist, dann mach ich mich lieber auf den Weg zum nächsten
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