Die Ernte
scheinen, warum teilen Sie nicht Ihre Erkenntnisse mit uns? Warum sind Sie so, wie Sie sind? Warum sind Sie selbstbewusst genug, um das in der Klasse herauszubrüllen, was sich viele andere auch gedacht, aber nicht zu sagen getraut haben?«
Die Augenbraue formte sich zu einem Fragezeichen.
Tamara fuhr fort. »Was unterscheidet Sie von der jungen Dame gleich neben Ihnen, die die ganze Zeit auf die Uhr blickt, als hätte sie hier eine Bombe mit Zeitzünder versteckt?«
Die junge Dame, über die Tamara gesprochen hatte, errötete leicht.
»Und warum bringt Herr Watkins keinen Ton heraus - was aber sicherlich nicht von langer Dauer sein wird -, während sein Gehirn doch rasend aktiv ist?«
Puh. Das waren viele Fragen für den Beginn einer Vorlesung. Aber sie sollte ja den Studenten Psychologie näher bringen, oder etwa nicht? Hier gab es keine Antworten, nur noch mehr verrückte Fragen. Und dabei ging es hier erst um relativ einfache Fragen. Wenn man dann erst mit Hellseherei und Vorahnungen und telepathischen Signalen begann und Shu-shaaa sagte, dann....
Dicke Augenbraue hatte seine Sprache wiedergefunden. »Weil ich ganz einfach so bin, wie ich bin.«
»Sie sind so, wie Sie sind. Aber warum?«
»Sicherlich wegen Drogen«, rief jemand laut und der ganze Hörsaal lachte erneut.
Tamara stimmte in das Lachen mit ein. Ihre innere Stimme war nicht mehr da, vielleicht in ihren Träumen verschwunden, vielleicht in ihr Unterbewusstsein gespült, oder vielleicht ja nur in einer Schublade ihrer ungeschriebenen Ängste verstaut.
Oder vielleicht warteten sie in Windshake, bis sie wieder nach Hause kam.
Sie blickte in die erste Reihe und sah dort einen männlichen Studenten, der ihre Figur angaffte. Wenn sie es schon nicht schaffte, ihre Studenten mit der Materie zu fesseln, so konnte sie wenigstens ein paar junge Männer vor dem Einschlafen bewahren. Robert schien nicht einmal mehr zu bemerken, dass sie eine Frau war. Er schien sich nicht einmal mehr daran zu erinnern, dass er eine Frau hatte.
Sie versuchte wieder, sich auf die Vorlesung zu konzentrieren und ließ der Diskussion freien Lauf. Es war eine gute Stunde, mit viel aktiver Teilnahme von den Studenten. Dabei kam auch der Spaß nicht zu kurz. Sie kam nicht wirklich im Stoff weiter, aber vielleicht konnte sie sie zum Nachdenken bringen, und das war ja schon die halbe Miete.
Sie war nach der Stunde gerade dabei, ihre Notizen zusammenzusuchen, als eine rothaarige junge Frau auf sie zukam. Tamara lächelte sie an und die Studentin lächelte zurück, während sie ihre Bücher gegen ihre Brust drückte.
»Professor Leon, ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr mir Ihre Vorlesung gefällt«, sagte sie.
»Oh, danke«, sagte Tamara und stopfte ihre Unterlagen in ihre abgewetzte Tasche. Sie fragte sich, ob die Frau eine Arschkriecherin war, oder ob sie wirklich jemand war, der sich für die Materie interessierte.
»Ich möchte Psychologie studieren und ich wüsste gerne, ob Sie mir nicht extra Lektüre empfehlen könnten.«
Tamara blickte in die blauen Augen der jungen Frau. Sie konnte keine versteckten Absichten erkennen. Und sie hielt sich für eine gute Menschenkennerin. Das war einer der Vorteile ihres Berufs.
»Mehr Psychologiebücher?«, fragte Tamara. »Sie könnten verrückt werden«, versuchte sie zu scherzen.
»Haben Sie nicht gesagt, dass Wahnsinn Ansichtssache ist?«, fragte die Studentin uneingeschüchtert.
Jetzt werde ich auch schon zynisch. Die junge Frau erinnerte sie an sich selbst vor einem guten Jahrzehnt. Ehrgeizig und wissbegierig. Beide gute Eigenschaften für einen Psychologen. Sie war aber auch noch dazu hübsch, was akademisch gesehen ein Nachteil sein könnte.
Tamara sagte: »Ich sage Ihnen etwas, Frau….«
»Blevins. Sarah Blevins.«
»Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Mein Vater ist Prediger in der Baptistenkirche in Windshake.«
»Und die Tochter eines Predigers will Psychologin werden?«
»Ich muss ja irgendetwas werden.«
Tamara lächelte. Psychologie war eigentlich auch eine Art Religion. Nicht besser und nicht schlechter als der Glaube der Baptisten. Und zur Wahrheit kam man in beiden Fällen, indem man Fragen stellte und nicht einfach alles glaubte.
»Verbleiben wir so«, sagte Tamara. »Ich stelle Ihnen eine Liste von Büchern zusammen, die Sie in der Universitätsbibliothek finden sollten. Wenn nicht, dann können Sie vielleicht welche von mir ausborgen.«
Sarahs sommersprossige Wangen bekamen Grübchen, als sie ihr
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