Die Ernte
erkennen, dass die Leuchtstäbe in Wirklichkeit die Augen des Typen waren, die in die Fleischmasse gesteckt waren, die dem Mann auf der Schulter saß. Und jetzt konnte er auch erkennen, dass das sicher kein Mensch mehr war.
Glänzende Leinen hingen an der Kreatur wie die Äste des Gerberstrauches, glatt und flaumig. Das Ding bewegte sich wie eine Nacktschnecke und hinterließ eine Schleimspur auf dem Boden. Das hohe Unkraut verwelkte unter seinen Schritten.
Aus dem Bereich der Schulter kam das quietschende Geräusch, das er schon zuvor gehört hatte. Eine klebrige Öffnung gähnte weit und James schaute voll gebanntem Schrecken auf den fluoreszierenden grünen Schlund. Im hinteren Teil der dunklen Öffnung bewegten sich die Rachenmandeln, von denen fauliger Nektar tropfte. Die Öffnung war mit grauen Dornen umsäumt und wenn sie sich schloss, dann mit einem erwartungsvollen Schmatzen.
Nein. James, das ist nicht nur deine Fantasie. Vier Glas Bier provozieren noch keine Halluzinationen. Nicht mal HUNDERT Glas Bier würden SOLCHE Visionen rechtfertigen.
James konnte sich nicht rühren. Seine Synapsen versuchten seine Reflexe anzufeuern und durch die verrückten Bilder, die er gerade gesehen hatte, zu seinen Gliedern zu dirigieren. Die Nachricht war ganz einfach: Gib Gas und beweg deinen Arsch so schnell wie möglich weg von hier.
Das Problem war nur, dass sein Fuß unter einer der hölzernen Schwellen gefangen war. Er hätte sich vorhin beinahe den Knöchel gebrochen, als er versucht hatte wegzulaufen.
Das Ding kam immer näher, seine Arme waren wie knorrige Äste nach vorne gestreckt und stechende Blätter reckten sich ihm entgegen. Während James versuchte, seinen Fuß zu befreien, konnte er den Kopf der Kreatur genauer sehen. Genauer als er das wirklich wollte. So genau, dass ihm von jetzt an bis zum Lebensende Alpträume sicher waren. Wenn ihm bis zu seinem Lebensende überhaupt noch Zeit zum Träumen blieb.
Er konnte die kiemenartigen Ränder im Schlund der Kreatur sehen, als sich die dornige Öffnung noch einmal öffnete. Im Inneren war eine fleischige Masse, die wie wiedergekäutes Futter aussah. Dann schloss sich die Öffnung noch einmal und fauliger Atem stieg aus dem Mund auf. Am schlimmsten aber war die Red Man Baseballkappe, die auf dem Schulterklumpen saß, denn sie machte den ganzen Horror noch viel realer.
Das Ding machte ein pfeifendes Geräusch und sprühte Wassertropfen in die Luft wie die Luftlöcher der Wale, die James im Discovery Channel gesehen hatte. Mit dem Unterschied, dass das Ding hier versuchte, Silben zu formulieren.
James kniete sich nieder und versuchte seinen Fuß unter der Schwelle herauszuziehen, während er spürte, wie sich die Haut von seinem Knöchel ablöste. Der Kies bohrte sich in sein Fleisch, aber er bemerkte den stechenden Schmerz nicht einmal.
»Shu-shaaa… «
Das Arschloch spricht NICHT mit mir. Bitte, Gott, lass ihn nicht mit mir sprechen.
Und nun war es so nahe, dass James schon seinen verdorbenen Atem riechen konnte, einen beißenden, minzigen Sprühnebel. In letzter Sekunde konnte er seinen Fuß aus dem gefangenen Schuh ziehen und er rollte zur Seite. James humpelte die Schienen entlang, während ein weißer Socken immer wieder in der Dunkelheit aufleuchtete. Er nahm all seinen Mut zusammen und schaute zurück, um sicher zu gehen, dass dieser pflanzliche Alptraum nicht näher kam. Das Ding war zwar nicht schnell, es wirkte aber verdammt entschlossen.
Die Kreatur mit der Red Man Baseballkappe rief ein letztes Mal nach ihm, wie ein Kind, das alleine auf dem Spielplatz zurückgelassen worden war.
» Shu-shaaa!!! «
NEUNTES KAPITEL
»Arbeiten Sie noch so spät?«
Nettie zuckte erschrocken zusammen. Prediger Blevins stand plötzlich hinter ihr, ohne dass sie etwas gehört hatte. Sie hatte gedacht, er sei schon vor Stunden weggegangen.
Sie konnte ihren Herzschlag bis in ihre Ohren fühlen. Der Prediger bewegte sich ständig mit sanften und andachtsvollen Schritten, so als ob der Lärm die Kirche in ein Chaos versetzen könnte. Trotzdem hätte er ruhig an die Tür der Sakristei klopfen können.
»Oh, ich habe Sie doch nicht erschreckt, oder?«, sagte er und lächelte dabei. Da sein Kopf wie eine Glühbirne geformt war, sah seine lächelnde Zahnreihe wie der Glühdraht einer solchen aus.
Sie legte mit einer übertriebenen Geste ihre Hand auf die Brust. »Ich dachte, es sei der Teufel in Person.«
»Der Teufel würde sich niemals einer so reinen
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