Die Ernte
Person wie Ihnen nähern«, sagte der Prediger und legte eine Hand auf ihre Schulter. Er beugte sich nach vor, um auf die Unterlagen zu schauen, die ihren Schreibtisch bedeckten. Dabei rutschte seine Krawatte nach vorn und strich über ihr Haar. »Ich habe gerade im Pfarrhaus ferngesehen, als ich aus dem Fenster geblickt und bemerkt habe, dass hier noch Licht brennt. Was ist denn so wichtig, dass Sie so lange arbeiten?«
»Es geht um diese Zahlen, über die ich schon einmal mit Ihnen gesprochen habe. Die ergeben keinen Sinn.«
»Ah, es geht also um das liebe Geld. Sie sollten sich um ein paar fehlende Dollar keine Sorgen machen. Ich bin mir sicher, der liebe Gott hat sie schon dorthin geleitet, wo er sie haben möchte.«
Nettie konnte den Fisch-und-Zwiebel-Geruch seines Atems nur zu genau riechen. Als sie sprach, drehte sie ihren Kopf nicht, da er mit seinem Gesicht so nahe bei ihrem war: »Nun, weil Sie schon da sind, könnten Sie ja vielleicht einen Blick darauf werfen. Schauen Sie, hier in der Spalte "Allfällige Ausgaben"….«
Mit dem Finger fuhr sie die Spalte voller Zahlen entlang. »Ich habe mir die Einträge der letzten zwei Jahre angeschaut, aber fast jeder Eintrag ist falsch. Schauen Sie, zum Beispiel haben wir am zwölften Juni eine Spende von 1000 Dollar an das Altersheim in Windshake verbucht. Aber ich habe dort als Freiwillige gearbeitet und ich kann mich ganz genau erinnern, dass die Spende nur 500 Dollar betragen hat. Ich weiß das, weil ich damit Gesangsbücher bestellt und das Klavier stimmen lassen habe.«
Blevins nickte ernst und sein Glühbirnengesicht bekam tiefe Falten.
»Und hier«, sagte Nettie. »Dreiundzwanzigster September. Eine Behebung von 350 Dollar um die Baptistenvereinigung zu bezahlen. Ich habe nachgefragt und die Mitgliedschaft kostet nur 200 Dollar.«
Er blickte ihr über die Schulter und Nettie kam es so vor, als ob er an ihrem Haar riechen würde. Dann richtete er sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin mir sicher, dass es da andere administrative Gebühren gab, oder so etwas Ähnliches. Wir geben auch viel Geld für andere Kleinigkeiten aus, zum Beispiel um armen Witwen zu helfen und Getränke für Kirchentreffen zu kaufen. Man kann nicht jeden Dollar genau verbuchen. Und Ausgaben sind schließlich Ausgabe, egal wofür. Wichtig ist, dass wir ein wachsendes Unternehmen sind. Es ist Gottes Wille, dass wir finanziell gedeihen und den Segen der Kirche gerecht verteilen.«
Netties Kopfhaut begann zu jucken, so als ob der Atem des Priesters ihr Läuse und Flöhe in die Haare gesetzt hätte. Sie drehte sich um und schaute ihn an.
Der Prediger hob seine Hände zu einer flehenden Geste. »Bevor wir Sie angestellt haben, habe ich mich um die Buchhaltung gekümmert. Ich kenne mich bei Zahlen nicht so gut aus. Gott hat mich nicht mit diesem Talent gesegnet. Ich habe sicherlich ein paar Fehler gemacht. Aber es steht ja schon bei Matthäus geschrieben, "Wenn du aber Almosen gibst , so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit dein Almosen verborgen bleibe, und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten."«
»Aber so viele Ausgaben lassen sich nicht nachvollziehen.«
»Sorgen Sie sich nicht, gutes Kind. Ich bin mir sicher, Sie finden dafür eine Lösung.« Er senkte seine Augen. »Nun, ich sollte jetzt meine Gebete sprechen und dann zu Bett gehen. An diesem Wochenende könnte die Kirche voll sein, es kommt ja das Blütenfest und Ostern steht auch vor der Türe.«
Er gähnte und warf dabei seinen Kopf in den Nacken, wobei seine stechender Atem unter seinen gelben Biberzähnen entwich.
»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Prediger?«
»Natürlich, meine Liebe.«
»Wessen Entscheidung war es denn, als ich als Kirchensekretärin eingestellt wurde? Ich meine, war es die Diakonie?« Sie hoffte, dass Bill nichts damit zu tun gehabt hatte.
»Nun, sie haben einige Empfehlungen gemacht, aber letztlich war die Entscheidung meine eigene.«
Nettie war erleichtert.
Blevins musste etwas bemerkt haben. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich war einfach neugierig, nichts weiter.«
Der Prediger trat näher, zögerte kurz und legte dann seine Hand wieder auf ihre Schulter, die er sanft drückte. »Ich glaube, es war die richtige Entscheidung, nicht wahr?«, sagte er und senkte erneut seine Augen.
Nettie fühlte wie sie wie Zungen über ihren Körper glitten. Nein, das war bloß ihre Einbildung. Sie hatte einfach zu lange gearbeitet,
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