Die Erscheinung
lassen wir uns scheiden. Wir waren zehn Jahre verheiratet, und die Ehe blieb kinderlos.«
»Wie schade …« In ihrer Stimme schwang ein mütterlicher Unterton mit, der sein Herz zusammenkrampfte. »Eine Scheidung muss furchtbar sein - eine plötzliche Kluft zwischen zwei Menschen, die sich einmal geliebt haben …«
»Ja …« Nachdenklich nickte er. »Es war sehr schwierig. Abgesehen von meinen Eltern habe ich noch nie einen geliebten Menschen verloren. Irgendwie lässt sich der eine Verlust mit dem anderen vergleichen. In diesem letzten Jahr war ich wie in Trance. Meine Frau verließ mich vor neun Monaten. Vorher dachte ich, wir wären wunschlos glücklich gewesen. Offenbar verstehe ich nichts von den Emotionen anderer Menschen«, fügte er mit einem traurigen Lächeln hinzu. Mitfühlend erwiderte sie seinen Blick. Obwohl sie einander erst seit kurzem kannten, unterhielten sie sich wie alte Freunde.
»Seien Sie nicht so streng mit sich selbst. Sie sind nicht der erste Mann, der sich einbildet, alles wäre in Ordnung, und dann das Gegenteil feststellen muss. Wie auch immer, es muss ein harter Schlag gewesen sein - nicht nur für Ihr Herz, auch für Ihr Selbstbewusstsein.« Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Nicht nur der schmerzliche Verlust bedrückte ihn, auch seine Würde und sein Stolz waren verletzt. »Selbst wenn es grausam klingt, so etwas zu sagen - Sie werden darüber hinwegkommen, Mr. Waterston. In Ihrem Alter haben Sie gar keine Wahl. Sie können nicht für den Rest Ihres Lebens ein gebrochenes Herz hegen und pflegen. Das wäre völlig falsch. Natürlich brauchen Sie erst einmal Zeit. Aber irgendwann werden Sie aus Ihrem Schneckenhaus kriechen. Das musste ich auch tun. Als Jimmy, Kathleen und Peggy starben, hätte ich mich in diesem Haus verkriechen und auf meinen letzten Atemzug warten können. Und nach Rolands Tod ebenso. Was hätte ich damit gewonnen? Es wäre sinnlos gewesen, die Jahre zu verschwenden, die mir noch blieben. Natürlich denke ich oft an die lieben Menschen, die ich verloren habe. Und manchmal weine ich, weil ich sie so sehr vermisse, dass ich's kaum ertrage … Aber ich habe noch anderen Menschen etwas zu geben. Also mache ich mich nützlich. Weil ich kein Recht habe, die Zeit zu verschwenden, die mir geschenkt wird. Eine gewisse Trauerphase steht uns zu. Aber sie darf nicht übermäßig lange dauern.« Solche Worte wollte er in seiner jetzigen Situation hören. Nun lä- chelte sie wieder. »Darf ich Sie zum Dinner einladen, Mr. Waterston? Es gibt Lammkoteletts mit Salat. Allzu viel esse ich nicht, und die Mahlzeit ist wahrscheinlich nicht so herzhaft, wie Sie's gern mögen. Aber zum nächsten Restaurant ist es ziemlich weit, und bei diesem starken Schneefall …« Sie verstummte und musterte ihn erwartungsvoll. In eigenartiger, subtiler Weise erinnerte er sie an Jimmy.
»O ja, ich esse sehr gern mit Ihnen. Soll ich Ihnen beim Kochen helfen? Mit Lammkoteletts kann ich umgehen.«
»Das wäre nett.« Aufgeregt wedelte Glynnis mit dem Schwanz, als würde sie jedes Wort verstehen. »Normalerweise esse ich um sieben. Kommen Sie hinunter, wann Sie wollen.«
Bevor sie das Zimmer verließ, schaute sie ihm noch einmal eindringlich in die Augen. An diesem Nachmittag hatten sie wertvolle Geschenke ausgetauscht, und obwohl sie nicht ganz verstanden, warum -, wussten sie beide, dass sie einander brauchten. Charlie entzündete ein Feuer in seinem Kamin, sank aufs Bett und starrte in die Flammen. Wie viel hatte diese bewundernswerte, tapfere Frau erlitten … Er musste sich glücklich schätzen, weil er ihr begegnet war. In ihrer schönen kleinen Welt wurde er von Herzenswärme und Güte umfangen.
Hastig nahm er ein Bad und rasierte sich. Dann schlüpfte er in saubere Sachen. Er war versucht gewesen, Gladys Palmer zuliebe einen Anzug zu tragen. Doch das wäre übertrieben gewesen. Und so entschied er sich für eine graue Flanellhose, einen dunkelblauen Rollkragenpullover und einen Blazer. Wie immer sah er in seiner perfekt geschnittenen Kleidung untadelig aus. Glücklicherweise war er beim Friseur gewesen, bevor er New York verlassen hatte.
Sobald Gladys ihn erblickte, strahlten ihre Augen. Sie war eine gute Menschenkennerin. Nur selten täuschte sie sich in den Gästen, die sie in ihrem Haus aufnahm, und dieser Mann würde sie bestimmt nicht enttäuschen. Eine so interessante Persönlichkeit hatte sie schon lange nicht mehr getroffen. Und sie glaubte ebenso wie er an einen tieferen Sinn
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