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Die Erscheinung

Titel: Die Erscheinung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danielle Steel
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an dem exquisiten kleinen Tisch Platz. »Mein Mann war Engländer. Hin und wieder flogen wir hinüber, um seine Verwandten zu besuchen. Nach ihrem Tod wollte er seine Heimat nicht mehr sehen, und er meinte, hier in Shelburne Falls würde er alles finden, was er sich wünschte.« Er glaubte, etwas Unausgesprochenes in ihren Augen zu lesen. Trauer? Erinnerungen? Liebe zu dem Mann, mit dem sie ihr Leben geteilt hatte?
    »Und woher kommen Sie, Ma'am?« Charlie nippte an seinem köstlichen Earl Grey. So guten Tee hatte er noch nie getrunken. Von dieser Frau ging tatsächlich eine gewisse Magie aus.
    »Ich bin hier geboren«, erwiderte sie und stellte ihre Tasse ab. Das zierliche Wedgwood-Geschirr passte zu ihrer äußeren Erscheinung. Wenn er Mrs. Palmer und ihre Umgebung betrachtete, musste er an Menschen und Orte denken, die er auf seinen Reisen durch England kennen gelernt hatte. »Mein Leben lang habe ich in dieser Gegend gewohnt, und mein Sohn ging in Deerfield zur Schule.« Das konnte er kaum glauben. Sie wirkte viel weltgewandter, als man es von einer Frau erwartete, die aus New England stammte und nur selten verreist war. »In meiner Jugend zog ich für ein Jahr zu meiner Tante nach Boston. Ich fand diese Stadt so aufregend. Dort lernte ich meinen Mann kennen, einen Gastdozenten an der Harvard-Universität. Nach der Hochzeit ließen wir uns in Shelburne Falls nieder. Das ist jetzt fünfzig Jahre her. Nächsten Sommer werde ich siebzig.«
    Jedes Mal, wenn sie so unwiderstehlich lächelte, wollte er sich über den Tisch beugen und sie küssen. Er erzählte ihr von seinem Vater, der auf Harvard amerikanische Geschichte gelehrt hatte. Eventuell war er Mr. Palmer begegnet. Dann schilderte er die Ausflüge nach Deerfield während seiner Kindheit und erklärte, wie sehr ihn die alten Häuser und die eiszeitlichen Strudellöcher in den Felsen am Deerfield River fasziniert hatten. »Daran erinnere ich mich sehr gut«, fügte er hinzu, als sie ihm eine zweite Tasse Tee einschenkte.
    In der Gesellschaft dieses Mannes fühlte sie sich sicher. Er sah offen und ehrlich aus, und er hatte gute Manieren. Warum verreiste er zur Weihnachtszeit allein? Hatte er keine Familie? Diese Frage stellte sie nicht. Stattdessen schlug sie vor: »Möchten Sie hier bleiben, Mr. Waterston? Es würde mir keine Mühe machen, eins meiner Gästezimmer aufzusperren.« Während sie sprach, schaute sie durch das Küchenfenster und beobachtete das dichte Schneetreiben. Bei diesem Wetter wäre es unfreundlich, ihn auf die Straße zu schicken. Außerdem mochte sie ihn. Und sie genoss die Unterhaltung. Hoffentlich würde er die Einladung annehmen.
    »Wenn ich Ihnen wirklich nicht zur Last falle …« Auch er sah den beängstigenden Flockenwirbel. Es wäre sträflicher Leichtsinn weiterzufahren. Und er würde sehr gern bei der alten Dame übernachten, die ihm wie eine Gestalt aus ferner Vergangenheit erschien. Trotzdem war sie eng mit der Gegenwart verbunden.
    »Natürlich nicht.« Wenige Minuten später führte sie ihn die Treppe hinauf. Auch im Oberstock bewunderte er die kunstvolle Bauweise des alten Hauses und besichtigte alle Räume.
    Schließlich stand er entzückt auf der Schwelle des Zimmers, das Mrs. Palmers ihm zur Verfügung stellte, und hatte das Gefühl, er würde als kleiner Junge nach Hause kommen. Die Vorhänge und die Bettdecke bestanden aus etwas fadenscheinigem, aber schön gemustertem blauweißen Chintz. Auf dem Kaminsims schimmerte edles altes Porzellan, an einer Wand hing ein Schiffsmodell. Mehrere Moran*-Gemälde zeigten Schiffe auf dem glatten oder stürmischen Meer. In diesem Raum würde Charlie am liebsten ein ganzes Jahr verbringen. So wie in den anderen Zimmern stapelte sich Brennholz neben dem Kamin. Alles in diesem Haus war sorgsam hergerichtet, als erwartete Mrs. Palmer Verwandte oder Freunde.
    »Einfach wundervoll«, meinte er dankbar, und sie lächelte. Sie teilte ihr Heim sehr gern mit Menschen, die schöne Frederick Moran, amerikanischer Panoramamaler Dinge zu schätzen wussten. Meistens kamen Leute zu ihr, die von Bekannten auf die gemütliche Pension hingewiesen worden waren. Mrs. Palmer annoncierte in keiner einzigen Zeitung oder Zeitschrift. Das Schild hatte sie erst letztes Jahr an den Zaun gehängt.
    Seit sieben Jahren beherbergte sie zahlende Gäste, um ihre Witwenrente aufzubessern. Die Leute leisteten ihr Gesellschaft und bewahrten sie vor der Einsamkeit. Voller Unbehagen hatte sie dem Weihnachtsfest

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