Die Erscheinung
Anfangs redeten sie nur. Carole schüttete Simon ihr Herz aus und erkannte, was ihr besonders gut an ihm gefiel - sein Verständnis, seine Fürsorge, seine bedingungslose Liebe. Nur um in ihrer Nähe zu bleiben, war er zu allem bereit, selbst wenn sie ihm nicht mehr als ihre Freundschaft schenken würde. Erfolglos versuchte sie, ihm aus dem Weg zu gehen. Ihr Mann war meistens verreist, sie fühlte sich einsam, und ihre Sehnsucht nach Simon wuchs. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie oft Charlie sie allein ließ. Zwei Monate, nachdem sie die Affäre beendet hatten, fing sie wieder an. Carole führte ein Leben voller Lügen. Fast jeden Abend, nach Büroschluss, traf sie Simon. Wenn ihr Mann daheim war, gab sie vor, sie müsse an den Wochenenden mit Simon zusammenarbeiten. Und wenn Charlie verreiste, zog sie nach Berkshire in Simons Haus. Was sie tat, war falsch. Das wusste sie. Doch sie war wie besessen und unfähig, der Versuchung zu widerstehen.
Zu Weihnachten herrschte eine gewisse Spannung zwischen Carole und Charlie. Er musste einige Schwierigkeiten auf einer Baustelle in Mailand meistern. Zur selben Zeit drohte der Tokio-Deal ins Wasser zu fallen, und er ließ sich fast nie daheim blicken. Ständig flog er irgendwohin, um Probleme zu lösen. Wenn er nach Hause kam, litt er unter seinem Jetlag, war erschöpft oder schlecht gelaunt. Wenn er es auch nicht wollte - immer wieder ließ er seinen Frust an Carole aus. Jetzt waren beide froh, dass sie keine Kinder hatten. Und Carole erkannte nicht zum ersten Mal, dass sie in getrennten Welten lebten. Nun fanden sie keine Zeit mehr, miteinander zu reden oder Gefühle zu teilen. Er hatte seine Arbeit, sie ihre. Außer ein paar Nächten im selben Bett und Partys, die sie gemeinsam besuchten, verband sie nichts mehr. Plötzlich fragte sie sich, ob das einstige Glück von Anfang an nur eine Illusion gewesen war, ob sie Charlie jemals geliebt hatte. In seinen beruflichen Ärger verstrickt, merkte er nicht, wie Carole sich seit dem letzten Sommer immer weiter von ihm entfernte. Den Silvesterabend verbrachte er allein in Hongkong, während Carole und Simon im Annabel's tanzten. Wegen seiner geschäftlichen Sorgen vergaß Charlie sogar, seine Frau anzurufen.
Im Februar spitzte sich die Situation zu. Er kam unerwartet aus Rom zurück, und Carole war über das Wochenende verreist. Diesmal behauptete sie nicht mehr, sie sei zu Freunden gefahren. Als sie am Sonntagabend heimkam, empfand er ein seltsames Unbehagen. Sie sah strahlend aus, schön und entspannt, so wie früher, wenn sie das ganze Wochenende im Bett geblieben waren, um sich zu lieben. Aber wer fand noch Zeit für so etwas? Sie mussten sich beide auf ihre Arbeit konzentrieren. Darauf wies er sie an jenem Abend beiläufig hin und verdrängte seinen vagen Argwohn. Wenig später sorgte sie für klare Verhältnisse und legte ein Geständnis ab. Sie spürte, dass in seinem Unterbewusstsein ein Verdacht wuchs, und sie wollte nicht warten, bis irgendetwas Schreckliches passieren würde. Eines Abends kam sie sehr spät von der Arbeit nach Hause und erzählte ihm alles, wann es begonnen hatte, wie lange es nun schon dauerte -fünf Monate, die kurze Unterbrechung nach der Rückkehr aus Paris abgerechnet. Er saß einfach nur da, hörte zu und starrte sie an, die Augen voller Tränen.
»Was ich sonst noch sagen soll, weiß ich nicht, Charlie«, fügte sie leise hinzu, und ihre heisere Stimme klang sinnlicher denn je. »Jedenfalls fand ich, du müsstest es wissen. So kann's nicht weitergehen.«
»Und was hast du nun vor?« Er versuchte, zivilisiert zu reagieren und sich einzureden, dergleichen würde in vielen Ehen passieren. Aber in diesem Moment wusste er nur, wie verletzt er war, wie sehr er Carole immer noch liebte. Und so schmerzlich der Gedanke auch war, dass sie mit einem anderen schlief - die wichtigste Frage lautete: Liebte sie Simon, oder amüsierte sie sich nur mit ihm? »Liebst du ihn?« Die Worte schienen in seinem Gehirn, in seinem Herzen und in seinem Magen aufeinander zu prallen. Um Himmels willen, was sollte er tun, wenn sie ihn verließ? Das wollte er sich gar nicht vorstellen, und um dieses Desaster zu verhindern, war er bereit, ihr alles zu verzeihen, wenn sie bei ihm blieb.
Aber sie zögerte sehr lange, bevor sie antwortete. »Ja, ich glaube schon.« So verdammt ehrlich war sie schon von jeher gewesen. Deshalb hatte sie ihm die Wahrheit erzählt. Diesen Wesenszug wollte sie nicht verlieren. »So genau weiß ich's
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