Die Erscheinung
freizugeben. Jedes Mal, wenn sie mit ihm sprach, gewann sie den Eindruck, er würde ertrinken, wild um sich schlagen und sie womöglich mit sich in die Tiefe ziehen. Irgendwie musste sie ihn loswerden, um zu überleben und von vorn anzufangen.
Ende September teilten sie endlich ihr Eigentum auf. Simon musste sich um eine Familienangelegenheit in Nordengland kümmern, und Carole verbrachte ein beklemmendes Wochenende mit Charlie in ihrem alten Haus. Über jeden einzelnen Gegenstand diskutierte er endlos lange, nicht weil er ihr etwas missgönnte, sondern weil er jede Gelegenheit nutzen wollte, um sie zurückzugewinnen. Für beide waren diese Tage ein einziger Albtraum, und Charlie verachtete sich selbst, weil er so schamlos an Caroles Mitleid appellierte und hoffte, sie würde sich von Simon trennen.
Dazu war sie nicht bereit. Am Sonntagabend, kurz bevor sie das Haus verließ, entschuldigte er sich für sein Verhalten. Mit einem wehmütigen Lächeln stand er in der Tür, fühlte sich grauenhaft, und Carole sah fast genauso verzweifelt aus wie er. »Tut mir Leid, ich habe mich das ganze Wochenende wie der letzte Idiot benommen. Keine Ahnung, was mit mir passiert… Wann immer ich dich sehe oder mit dir rede, drehe ich durch.« Zum ersten Mal, seit sie am Sonntagmorgen begonnen hatten, ein Inventar aufzustellen, wirkte er halbwegs normal.
»Schon gut, Charlie - ich weiß, für dich ist es nicht leicht.« Für sie auch nicht. Doch das würde er nicht verstehen. Nach seiner Meinung hatte sie ihn verlassen, um in die Arme eines anderen zu sinken. Sie musste sich nicht einsam fühlen, und wenn sie in dieser schwierigen Zeit Trost brauchte, war Simon an ihrer Seite.
Aber Charlie hatte niemanden. Seufzend schaute er in ihre Augen. »Nein, es ist gewiss nicht leicht. Hoffentlich wirst du nicht bereuen, was du getan hast.«
»Das hoffe ich auch.« Sie küsste ihn auf die Wange und bat ihn, auf sich aufzupassen. Wenige Minuten später fuhr sie in Simons Jaguar davon. Charlie starrte ihr nach und versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nie wieder in diesem Haus leben würde. Langsam ging er hinein, schloss die Tür hinter sich, sah das gestapelte Porzellan auf dem Esstisch, die Bücher, die Fotoalben. Und dann sank er in einen Sessel und weinte. Wie schrecklich er sie vermisste … Sogar dieses gemeinsame Wochenende, an dem sie ihren Besitz aufgeteilt hatten, erschien ihm besser als gar nichts.
Als die Tränen endlich versiegten, war es draußen dunkel geworden. Seltsamerweise fühlte er sich besser. Es gab kein Zurück, Carole war für immer gegangen, und er hatte ihr fast alle Sachen überlassen.
Am 1. Oktober stürmten neue Schwierigkeiten auf ihn ein. Der Leiter des New Yorker Hauptbüros hatte einen Herzinfarkt erlitten, und der Partner, der den Posten übernehmen könnte, plante eine eigene Firma in Los Angeles zu gründen. Und so flogen die beiden Seniorpartner des Unternehmens, Bill Jones und Arthur Whittaker, nach London, um Charlie in die Staaten zurückzuholen. Mit aller Macht sträubte er sich dagegen. Seit er vor zehn Jahren nach London übersiedelt war, wusste er, dass er nie wieder in New York arbeiten wollte. In Europa, vor allem in Italien und Frankreich, wurden einem guten Architekten viel interessantere Chancen geboten, und die Aufträge in Asien faszinierten ihn genauso.
»Das kann ich nicht«, erklärte er den beiden Seniorpartnern. Aber sie ließen nicht locker. »Warum nicht?«, fragte Jones. Weil ich's nicht will, dachte Charlie. Das sprach er nicht aus, aber man merkte ihm offensichtlich an, was in ihm vorging. »Selbst wenn Sie lieber in Europa arbeiten -zurzeit gibt es in der amerikanischen Baubranche hochinteressante Entwicklungen, die Sie zweifellos inspirieren werden.«
Wohl kaum, überlegte Charlie, schwieg beharrlich, und die beiden wechselten einen kurzen Blick. Sie wollten ihn nicht darauf hinweisen, das er nach der Trennung von seiner Frau keinen Grund hatte, den neuen Job abzulehnen. Im Gegensatz zu anderen Kandidaten war er ungebunden, brauchte nicht an eine Familie zu denken, und das Haus konnte er vermieten, während er das New Yorker Büro leitete. Zumindest bis sie jemand anderen für den Posten fanden.
»Glauben Sie mir, es ist sehr wichtig für uns, Charlie«, ergänzte Whittaker. »Bedauerlicherweise gibt es sonst niemanden, an den wir uns wenden könnten.« Der Chef des Chicagoer Büros konnte nicht nach New York übersiedeln, weil seine Frau seit einem Jahr an
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