Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
ich Darren Lipseed anrufen und mich von ihm darüber belehren lassen konnte, dass es verschiedene Stufen des Totseins gibt.
Die Tasche mit den Effekten ist unter einem Flugzeugsitz versteckt. Verstaut. Handgebäck.
Nicht hineinschauen. Nur hineingreifen. Feucht. Die Kleider sind noch feucht. Wie kann das sein.
So lange ist es doch noch gar nicht her.
Doch.
Nein.
Ich greife ein zweites Mal hinein. Taste nach dem Portemonnaie von meinem Dad. Ist es da. Ja. Eigentlich wollten wir das längst ins Reine bringen, haben es aber nicht getan. Die Effekten sind bis heute nicht im Reinen.
Ich nehme das Portemonnaie, verstaue die Tasche und laufe durch den Mittelgang ins Bad. Ich muss mich erbrechen. Ich muss den Kopf in die Toilettenschüssel stecken und mich erbrechen. Die Stoppuhr um meinen Hals ist mir im Weg. Aus dem Weg. Ich will mich erbrechen. Oh, pardon. Endlich, nachdem ich Seife, WD-40, hektoliterweise Kaffee und Gottweißwas zu mir genommen habe, kann ich mich erbrechen.
Oder auch nicht. Wahrscheinlich würden sich die meisten Leute erbrechen, wenn sie auf eine Tasche mit den Effekten von ihrem Dad gestoßen wären. Die meisten Leute würden sich erbrechen, wenn sie das letzte noch verbliebene Stockwerk des Hauses betreten und ihren Dad darin endgültig tot gemacht hätten. Aber was ich auch zu mir genommen habe, es ist nicht erbrechbar. Vielleicht bin aber auch einfach nicht der klassische Erbrecher.
Ich setze mich auf den Badezimmerfußboden. Die Stoppuhr läuft vorwärts, wird aber früher oder später zwangsläufig wieder bei null landen und von vorn beginnen. Immer und immer wieder. Vorwärts und doch im Kreis. Jetzt habe ich die Uhr, das Armband und das Portemonnaie von meinem Dad. Ich fliege nach England. Schenk mir Mut, Flugzeug im Keller. Mut und Neugier.
Durch die offene Tür kann ich Onkel Thobys Bett sehen und darunter, unter anderem, drei Pizzakartons. Die Lichterketten Modell D-434. Wieder ein Rätsel gelöst.
Das Bett sieht aus wie ein Bett, in dem schon lange niemand mehr geschlafen hat. Und ich frage mich, ob er vielleicht hier unten im Flugzeug saß und nicht geschlafen hat, während ich am Küchentisch saß und nicht geschlafen habe.
Ach, armer, armer Onkel Thoby.
Subtrahiere, was du zu wissen glaubst.
Ich rappele mich hoch. Neben dem Bett steht ein gerahmtes Foto von meinem Dad. Die Qualität ist nicht besonders gut. Es ist ein Polaroid. In dem Rahmen steckt ein ovales Passepartout, aus dem sein Gesicht hervorschaut wie aus einem Flugzeugfenster. Das Oval scheint meinem Dad ganz und gar nicht zu behagen. Trotzdem sieht er mich liebevoll an. Weil ich das Foto gemacht habe. Das weiß ich genau. Er liest. Am unteren Rand des Ovals schimmert das Weiß der Seiten.
Wann habe ich dieses Bild geknipst.
Mit der Kamera habe ich unendlich viele Fotos geschossen. Eine Zeit lang gab es für mich nichts Schöneres als Polaroids.
Wo ist er. Ich versuche, über die Grenzen des Ovals hinauszublicken. Das Foto steht seit Jahren hier, und ich habe noch nie über die Grenzen des Ovals hinausgeblickt.
Eins ist mir inzwischen klar: Man kann ein Bild aus einem Rahmen nehmen. Als Kind hätte ich das nicht gewagt. Befand sich ein Bild einmal hinter Glas, war es dort zu Hause. Um es herauszuholen, musste man dem Foto in den Rücken fallen. Und das war nicht ganz einfach. Denn am Rücken des Fotos gab es einen Mechanismus, und wie funktionierte der. Dazu war ich nicht intelligent genug. Ich hätte natürlich, wie beim Zauberwürfel, eine Waffe zu Hilfe nehmen und das Ding aufstemmen können. Aber während ich dem Zauberwürfel ohne Zögern mit einer Waffe zu Leibe rückte, mochte ich meinem Dad oder Onkel Thoby das nicht antun.
Wie albern. Eine Waffe ist doch gar nicht nötig. Ja, jeder Rahmen ist anders. Manche sind mit Samt überzogen und haben drehbare Verschlussclips. Andere wieder sind aus Pappe, mit kleinen Nägeln, die man aufbiegen muss. Aber das ist eigentlich alles kein Problem. So difficile ist ein Rahmen nun auch wieder nicht.
Wenn Sie die Rückseite entfernt haben, werden Sie vermutlich eine Schicht aus anderem Material vorfinden, bevor Sie an das Bild gelangen. Wellpappe, zum Beispiel, oder hauchdünnen Schaumstoff. Das Hochglanzfoto eines gelben Labradors, das ab Werk im Rahmen steckte. Oder ein zusammengefaltetes Stück Papier, das auf einer Seite bedruckt und auf der anderen mit einer groben Lageskizze des Wednesday Pond versehen ist, mit einem Pfeil, der auf Ihr Haus zeigt. Und einer
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